»Ausländer raus« in Solingen
Montagabend um 22 Uhr war in Solingen Ruhe eingekehrt. Polizeihundertschaften verließen in Fahrzeugkolonnen die Stadt und die Busse hielten wieder an der Haltestelle Graf-Wilhelm-Platz in der Innenstadt. Doch vor der Asylunterkunft in der Goerdelerstraße harrten noch über 100 meist junge Antifaschist:innen aus. Sie hielten das für notwendig. Früher am Abend hatten militante Neonazis und Hooligans den montäglichen Kleinprotest von »Querdenkern« übernommen.
Es war der zweite rechtsextreme Protest in der Stadt nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag vom Freitag. Ein 26jähriger Mann aus Syrien, der in eben jener Asylunterkunft lebte, vor der am Montag die Antifaschist:innen standen, hat mutmaßlich drei Menschen ermordet und acht weitere zum Teil schwer verletzt. Beim Stadtfest zum 650. Geburtstag der »Klingenstadt« stach er mit einem Messer wahllos auf Feiernde ein. Am Samstagabend stellte sich der Tatverdächtige der Polizei. Der »Islamische Staat« bekannte sich zu dem Anschlag und veröffentlichte am Sonntag ein Video, das den Attentäter zeigen soll. Der Generalbundesanwalt ermittelt.
In seiner Rede versprach der Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich, wenn seine Partei, die AfD, erst einmal regiere, werde man Taten wie die von Solingen »rächen«.
Für die extreme Rechte kam der Anschlag eine Woche vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen wie gerufen. Schon Freitagnacht, als noch kaum etwas bekannt war, liefen Telegram-Kanäle und X-Accounts heiß. Martin Sellner, der ehemalige Sprecher der Identitären Bewegung Österreichs, haute das ganze Wochenende einen Post und ein Video nach dem anderen heraus und zeigte sich dabei geradezu hämisch. In Solingen habe es große Demonstrationen gegen seine Ideen zur »Remigration« gegeben, doch wer diese ablehne, müsse eben mit den »Messermännern« rechnen.
Im AfD-Umfeld wurde das Attentat direkt in die wahlkampfgerechte X-Kampagne #HöckeOderSolingen verwandelt. Auch Neonazis wie der ehemalige Dortmunder Alexander Deptolla, der zu den Hauptorganisatoren des Kampfsportevents »Kampf der Nibelungen« gehört, äußerten sich. »Wacht endlich auf«, sagte Deptolla in einem Video im Telegram-Kanal vom »Kampf der Nibelungen«, nun müsse man »den Arsch hochkriegen« und die »Proteste in eurer Region« unterstützen. Die rechtsextreme Kleinstpartei Freie Sachsen fragte ihre mehr als 135.000 Telegram-Abonnent:innen, ob der Anschlag von Solingen der »Kipppunkt« zu Massenprotesten sei.
Hunderte Antifaschist:innen kamen
Danach sieht es bislang nicht aus. Rechtsextreme Instrumentalisierungsbemühungen scheiterten zumindest auf der Straße kläglich. Die Junge Alternative (JA), die Nachwuchsorganisation der AfD, hatte zu einer Kundgebung am Sonntagnachmittag aufgerufen – allerdings nicht öffentlich, wohl aus Angst vor Gegenprotest. Doch mit der Geheimhaltung klappte es nicht so gut, es fanden sich Hunderte – andere Schätzungen kommen auf über tausend – Antifaschist:innen in Solingen ein.
Deswegen musste die Kundgebung der JA, die eigentlich in unmittelbarer Nähe des Tatorts stattfinden sollte, um einige Hundert Meter verlegt werden. Die etwa 40 Teilnehmer:innen versammelten sich dann in der Fußgängerzone zwischen zwei leerstehenden Kaufhäusern. An diesem suboptimalen Standort wurde die AfD-Jugend auch noch von zahlreichen Linken übertönt. Der Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich, ein Vertreter des stramm völkischen Flügels der AfD, war deshalb kaum zu verstehen, als er in seiner Rede sagte, die AfD wolle, dass Deutschland auch in hundert Jahren noch deutsch sei.
Helferich ist sogar in seiner eigenen Partei umstritten und gehört im Bundestag der AfD-Fraktion nicht an. Kürzlich entzog der Landesverband Nordrhein-Westfalen ihm die Mitgliedsrechte und leitete ein Parteiausschlussverfahren ein, weil er andere Mitglieder bedroht und sich öffentlich allzu hetzerisch geäußert habe, zum Beispiel indem er Migranten als »Viecher« bezeichnete oder sich selbst als »freundliches Gesicht des Nationalsozialismus«. Doch offenbar hat Helferich im völkischen Umfeld der Partei noch einige Unterstützer – und bei der JA. In seiner Rede versprach der Bundestagsabgeordnete, wenn seine Partei erst einmal regiere, werde man Taten wie die von Solingen »rächen«.
Am Montag folgte das nächste rechtsextreme Event in Solingen – diesmal mit Teilnehmern, die das mit der Rache wohl gerne selbst in die Hand nehmen würden. Zur wöchentlichen Demonstration der örtlichen Coronaleugner:innen, zu der sonst eine einstellige Zahl von Teilnehmer:innen erscheint, hatten diesmal auch Neonazis und Hooligans aufgerufen. Insgesamt standen etwa 250 Menschen auf dem Neumarkt, wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt. Vorne trugen sie ein Transparent, auf dem groß stand: »Remigration jetzt!« Als sie Antifaschist:innen entdeckten, stürmten die Nazis und Hooligans auf sie los, die Polizei trennte erst im letzten Moment die Gruppen.
»Nationaler Sozialismus – jetzt!«
Knapp wurde es an diesem Abend oft, die Polizei hatte viel zu tun. Die rechtsextreme Demonstration wurde nach einem Teil der Wegstrecke von der Anmelderin beendet. Diese sagte, sie wolle keine »rechtsradikalen Parolen« – zuvor war unter anderem »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!« gerufen worden. Das neonazistische Gros des Aufmarschs störte sich nicht an der Beendigung des Umzugs. Mit dem Bochumer Claus Cremer von der Partei »Die Heimat« (früher NPD) fand sich ein Anmelder für eine Spontandemonstration. Parolen wie »Nationaler Sozialismus – jetzt!« brüllend marschierten die Neonazis nunmehr stramm in Dreierreihen. Mindestens ein Hitlergruß war zu sehen.
Gegen 21 Uhr war der Aufmarsch vorbei. Antifaschist:innen, die ihn zuvor lautstark begleitet hatten, zogen zur Asylunterkunft: Sicher ist sicher, dachten sie sich wohl, nicht dass ein paar mit Nazis beladene Autos dort ungehindert einen Zwischenhalt einlegen. Vor der Unterkunft wurde noch lange diskutiert, was den IS vom NS unterscheidet und was nicht und wie sehr die AfD vom Solinger Anschlag profitieren könnte.