Die Familienserie »Die Zweiflers« ist absolut sehenswert

Familie als Bollwerk und Zumutung

Der geplante Verkauf ihres Deli wirbelt eine jüdische Familie durcheinander. Der ARD-Mehrteiler »Die Zweiflers« ist der Glücksfall einer deutschen Familienserie.

Ein bekannter jüdischer Witz fragt nach dem Unterschied zwischen einer jüdischen Mama und einem Bullterrier. Die Antwort lautet: Der Bullterrier lässt manchmal los. In der von David Hadda produzierten Miniserie »Die Zweiflers« verkörpert Sunnyi Melles eine solche jüdische Übermutter: Mimi Zweifler ist das blondgelockte Oberhaupt einer großen Familie im Frankfurt am Main der späten zehner Jahre, die sich nach Kräften bemüht, die Kontrolle über alles, was um sie herum geschieht, zu behalten.

Damit treibt sie sowohl ihre erwachsenen Kinder Samuel (Aaron Altaras), Leon (Leo Altaras) und Dana (Deleila Piasko) als auch Ehemann Jackie (Mark Ivanir), einen Sexualtherapeuten, der sich gelegentlich auf amouröse Abwege begibt, an den Rand des Wahnsinns. Doch wenn es ums Geschäftliche geht, laufen die Dinge zu ihrem Ärger nicht so, wie sie es will.

Der Patriarch, ein Holocaustüberlebender und Selfmademan, hat triftige Gründe, das Unternehmen an die »seelenlosen Roboter« einer Investmentfirma zu verkaufen, denn es gibt in der Familie niemanden, der ihm nach­folgen könnte. 

Das Familienunternehmen, ein gut laufendes Delikatessengeschäft mit angeschlossenem Restaurant im Frankfurter Bahnhofsviertel, steht zum Verkauf. Als Mimi viel zu spät von den Plänen ihres Vaters Symcha Zweifler (Mike Burstyn) erfährt, das Deli zu veräußern, ist sie wütend; das Restaurant »Zweiflers« war 40 Jahre lang ihr Arbeitsplatz. In ihren Augen stellt es das Vermächtnis der Familie dar und ist Ausdruck ihrer Selbstbehauptung und ihrer Anerkennung in der deutschen Gesellschaft.

Der altgewordene Patriarch, ein Holocaustüberlebender und Selfmademan, hat durchaus triftige Gründe, das Unternehmen an die »seelenlosen Roboter« einer Investmentfirma zu verkaufen, schließlich gibt es in der Familie niemanden, der ihm an der Spitze des Unternehmens nach­folgen könnte. Symcha hat das Geschäft in den Jahren nach dem Krieg in einer von alten Nazis und ihren Seilschaften dominierten Umgebung gegen große Widerstände aufgebaut – und ist dabei, wie es bald heißen wird, auch über Leichen gegangen.

Neben Deutsch und Jiddisch kommen Englisch, Hebräisch, Russisch und sogar Chinesisch vor

Um seine Verkaufspläne mitzuteilen, ruft Symcha seine Familie zusammen. Von den Enkeln ist Samuel angereist, der in Berlin fern der Enge der Großfamilie lebt; Dana ist aus Israel via Laptop zugeschaltet. Mimis Schwester Tammi (Ute Lemper) nimmt per Telefon aus New York an der Versammlung teil. Zumindest bis sie auflegt, weil sie den schwesterlichen Beitrag »so hilfreich wie die Matze nach Pessach« findet.

Bei den Zweiflers wird von Anfang an Tacheles geredet, und zwar am liebsten deftig und vielsprachig; neben Deutsch und Jiddisch kommen Englisch, Hebräisch, etwas Russisch und sogar Chinesisch vor. Selbstverständlich kommt man an diesem Tag weder zu einer Übereinkunft noch stellt sich der Familienfrieden wieder ein.

Zweifelhaftes Vergnügen: Die Eheleute Jackie (Mark Ivanir) und Mimi (Sunnyi Melles) mit blauer Zuckerwatte auf dem Rummel

Zweifelhaftes Vergnügen: Die Eheleute Jackie (Mark Ivanir) und Mimi (Sunnyi Melles) mit blauer Zuckerwatte auf dem Rummel

Bild:
ARD Degeto/HR/Turbokultur/Elliott Kreyenberg

Mit dem Auftauchen einer sinis­tren, gerade aus dem Gefängnis entlassenen Frankfurter Rotlichtgestalt holt die Vergangenheit Symcha ein: Martin Wuttke gibt den »Juden-Siggi« mit erpresserischer Gönnerhaftigkeit und womöglich etwas zu viel Hingabe ans Klischee des Kleingangsters. Dadurch fällt dieser in seinen Volten durchaus interessante Erzählstrang im Vergleich zu den übrigen Geschichten um Familienzusammenhalt, Zumutungen der Tradition und individuelle Neuerfindungen etwas ab. Andererseits macht gerade das disparat Zusammengesetzte, das Spiel mit Klischees und Anleihen aus anderen Serien und Popkultur-Versatzstücken einen großen Teil des Charmes der Serie aus.

Man fühlt sich an »Die Sopranos« erinnert

Leichtfüßig gelingt es dem Drehbuch, das Hadda gemeinsam mit Juri Sternburg und seiner Frau Sarah Hadda geschrieben hat, Drama- und Krimimotive mit einer zentralen Liebesgeschichte zu verschmelzen. Nicht von ungefähr fühlt man sich an »Die Sopranos« erinnert, Haddas erklärte Lieblingsserie. Die sich aus den Kon­stellationen ergebenden Fragen zielen ins Allgemeingültige. Es geht um die Bedeutung von Identität, die Notwendigkeit von Brüchen und Kontinuität, letztlich um das richtige Leben.

Auf dem Sofa kommen die Erinnerungen an vergangenes Leid. Lilka (Eleanor Reissa)

Auf dem Sofa kommen die Erinnerungen an vergangenes Leid. Lilka (Eleanor Reissa)

Bild:
ARD

Zwischen Mülltonnen im engen Hinterhof eines Szenerestaurants flammt bei einer gemeinsamen Zigarette Liebe zwischen Samuel und Saba (Saffron Coomber) auf. Saba ist Küchenchefin mit englischem und karibischem Hintergrund in dem angesagten Lokal, in dem Samuel sich mit seiner alten Frankfurter Freundes­clique trifft. Genüsslich lässt das Drehbuch die beiden um politisch korrekte Worte ringen, die angesichts ihrer so offensichtlich unterschiedlichen Herkunft angemessen sind. Es ist Liebe auf den ersten Blick, die Musik des Soundtracks wechselt von dem Siebziger-Jahre-Soul, mit dem Samuel eingeführt worden ist, zu Nick Caves »Into My Arms«. Samuel kann nicht anders, als Saba mit dem Kommentar »Willkommen in der verrückten Familie. Ich entschuldige mich im Voraus« mit der gesamten Mischpoke bekannt zu ­machen.

Bald wird Saba schwanger und sieht sich schnell Mimis Umgarnungen und Manövern ausgesetzt. Deren erklärtes Ziel ist es, die Schwiegertochter in spe ins Judentum einzu­gemeinden und den ersehnten Enkel traditionsgemäß im Rahmen einer feierlichen Brit Mila beschneiden zu lassen. Selbstverständlich führt das zu unzähligen Konflikten, aus denen dramaturgisch Funken geschlagen werden. Dabei variiert die emotionale Tonlage von komödiantisch-schrill über melancholisch bis zu depressiv-düster.

Dank des großen, international besetzten Ensembles, das bei aller Überspitzung die Vielschichtigkeit der Charaktere auslotet, gelingt der Serie etwas, das es im deutschen Fernsehen bisher kaum gab: eine zugleich witzige und tiefgründige Darstellung jüdischen Lebens in Deutschland.

Dank des großen, international besetzten Ensembles, das bei aller Überspitzung die Vielschichtigkeit der Charaktere auslotet und Schwarz­weißzeichnungen vermeidet, gelingt der 2023 in Berlin, Frankfurt und Aschaffenburg gedrehten Serie etwas, das es im deutschen Fernsehen bisher kaum gab: eine zugleich witzige und tiefgründige Darstellung jüdischen Lebens in Deutschland. Dazu bedienen die Regisseurinnen Anja Marquardt und Clara Zoë My-Linh von Armin filmisch gekonnt unterschiedliche Register, stilisieren das Geschehen, ziehen immer wieder die Geschwindigkeit an und kommentieren die Handlung mit spektakulären Essens- und Kochbildern aus der Welt der jüdischen Küche.

Hadda zeigt seine jüdischen Figuren aus drei Generationen in ihrem jeweiligen Alltag. Es sind Leute, die in Clubs gehen, sich streiten, Eheprobleme haben oder von den Erinnerungen an die Vergangenheit heimgesucht werden.

Turteln bei Matzebällchen und Lachs: Samuel (Aaron Altaras) und Saba (Saffron Coomber)

Turteln bei Matzebällchen und Lachs: Samuel (Aaron Altaras) und Saba (Saffron Coomber)

Bild:
ARD

Insgesamt wird bei aller Normalität, um die stets gerungen werden muss, dennoch die All­gegenwart des Schreckens des Holocaust wachgehalten. Sie drückt sich in der Zeichnung von Figuren wie Symchas Frau Lilka (Eleanor Reissa) aus, die freiwillig nie zu einem deutschen Arzt gehen würde und sich, als sie dazu gezwungen ist, prompt bestätigt sieht: »Überraschung! Der Todesengel steht vor der Tür!« Auch im Gerede eines Taxifahrers, der Saba in ein Gespräch verwickelt, bricht sich die Mixtur aus Judenfeindschaft und dem Geraune von der Weltverschwörung Bahn.

Angesichts des fortdauernden Antisemitismus ist es für Symcha umso wichtiger, jüdische Traditionen und kollektive Erinnerungen zu bewahren. Um auch Samuel von der Gefahr zu überzeugen, erzählt Symcha ihm – natürlich – einen Witz: Am Ende wird immer alles den Juden in die Schuhe geschoben, sagt er, denk nur an die »Titanic«! »Wer war schuld? Eisberg.«

»Die Zweiflers« kann in der ARD-Mediathek gestreamt werden.