Die politischen Inhalte der ­antiisraelischen Proteste sollten ernst genommen werden

Nehmt sie beim Wort

Die meisten Proteste, die »propalästinensisch« genannt werden, haben diese Bezeichnung nicht verdient.

Praktisch jede Woche ist in deutschen Medien von »propalästinensischem Protest« zu lesen. Der Begriff impliziert, dass dabei ein eindeutiges Ziel verfolgt wird: Es werde für die Interessen »der Palästinenser« demonstriert. Besonders wenn es um Proteste an Hochschulen geht, wird oft gefordert, sich mit Kritik ein wenig zurückzuhalten und auf das »menschenrechtliche und humanistische Anliegen der Proteste – gegen Krieg, Besatzung« zu schauen, wie die Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Mi­grationsforschung, Naika Foroutan, kürzlich im Tagesspiegel schrieb.

Dabei geht allerdings unter, dass antiisraelische Proteste in der Regel von politischen Kleingruppen und erfahrenen Aktivisten bestimmt werden. Man kann davon ausgehen, dass sie in den entscheidenden politischen Fragen bewusst und durchdacht Stellung beziehen. Sie verdienen deshalb, ernst genommen zu werden. Und wenn man das tut, erkennt man in der Regel, dass die Bezeichnung »propalästinensisch« zumindest irreführend ist.

 Man kann davon ausgehen, dass die Protestierenden in den entscheidenden politischen Fragen bewusst und durchdacht Stellung beziehen. Sie verdienen deshalb, ernst genommen zu werden. Und wenn man das tut, erkennt man in der Regel, dass die Bezeichnung »propalästinensisch« irreführend ist.

Ein Beispiel ist die Student Coalition Berlin, die eine »Besetzung« auf dem Gelände der Freien Universität organisierte. Ihr Protest richtete sich gegen die »75jährige Besatzung Palästinas« durch Israel – gemeint ist also Israels Staatsgründung 1948, nicht erst die Eroberung der Westbank im Zuge des Sechstagekriegs 1967. Auf ihrem Instagram-Account postete die Student Coalition ein Video der Rede, mit der die »Besetzung« an der FU erklärt wurde. Darin fällt kein Wort über die Hamas, stattdessen wird explizit die BDS-Bewegung unterstützt. 

Diese Boykottbewegung will Israel wirtschaftlich und kulturell isolieren. Sie ruft sogar explizit zum Boykott der israelischen Gruppe Standing Together auf. Das ist eine Basisbewegung, die das Ziel hat, Araber und Juden zusammenzubringen, um gemeinsam für »Frieden und Gleichheit« zu kämpfen. Mitglieder von Standing Together waren zum Beispiel vergangene Woche an der Grenze zum Gaza-Streifen, um gegen rechtsextreme Siedleraktivisten zu protestieren, die humanitäre Lieferungen ins Palästinensergebiet blockierten. In den Augen der antiisraelischen Boykottbewegung betreibt Standing Together die »Normalisierung« Israels und muss deshalb bekämpft werden.

Islamistische Diktatur im Gaza-Streifen

Noch deutlicher wird es bei den Students for Justice in Palestine, die bei den Campusprotesten in den USA eine große Rolle spielen. Ihr Ableger an der Columbia University erklärte zwei Tage nach dem 7. Oktober seine »volle Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand«. Der 7. Oktober sei ein »historischer Moment«, und »wer jetzt nach Frieden ruft«, fordere die »Unterwerfung« der Palästinenser.

Ist das »propalästinensisch«? Für Palästinenser einzutreten, müsste eigentlich bedeuten, gegen die Hamas zu sein. Diese hat im Gaza-Streifen eine islamistische Diktatur betrieben und dessen Bewohner, wenn sie aufmuckten, gefoltert und massakriert. Die Hamas hat Hunderte Millionen Euro in die Kriegsvorbereitung und den Bau riesiger Tunnelanlagen gesteckt, die keinen anderen Zweck erfüllen, als im Falle eines Kriegs, den sie am 7. Oktober denn auch begann, genutzt zu werden – nicht um die Zivilbevölkerung zu schützen, sondern um Hamas-Terroristen und israelische Geiseln zu verstecken.

Dass die Hamas den Tod palästinensischer Zivilisten »in Kauf nimmt«, ist eine Untertreibung: Deren Tod ist Teil des Kriegsplans der Terrormiliz. Zudem hat die Hamas kein anderes Ziel, als diesen Krieg so lange weiterzuführen, bis der letzte Quadratmeter Israels »befreit« ist, will heißen: bis dort ebenfalls eine islamistische Diktatur herrscht. Um dieses Ziel zu erreichen, werde man »wieder und wieder« einen »7. Oktober durchführen«, sagte ein Hamas-Führer vergangenes Jahr in einem Fernsehinterview.

Absurde Phantasien verbreiten

Wenn jemand wie der Columbia-Professor Rashid Khalidi bei seinem kürzlichen Berlin-Besuch meint, man müsse die Hamas als politische Macht nun mal akzeptieren – ist das dann besonders »propalästinensisch«? Wenn eine deutsche Gruppe wie »Palästina spricht« den 7. Oktober als »revolutionären Tag« feierte, auf den man »stolz sein könne«– handelt sie dann wirklich im Interesse der Menschen, die unter dem israelischen Gegenangriff leiden?

Es gibt viele legitime Anliegen, die man vertreten könnte, wenn man für Palästinenser auf die Straße geht: Man könnte mögliche israelische Kriegsverbrechen anprangern – das, was Joe Biden »indiscriminate bombing« genannt hat, die Misshandlung palästinensischer Kriegsgefangener oder die Einschränkung humanitärer Hilfe – oder die Gewalt militanter Siedler in der Westbank, gegen die der israelische Staat unter der Regierung Netanyahu kaum etwas tut. Doch immer wieder sieht man, dass die »Palästinasolidarität« sich weniger für konkretes Unrecht interessiert als vielmehr dafür, absurde Phantasien zu verbreiten.

Die Protestbewegung sagt: Israel muss weg, dann wird alles gut.

So meinte zum Beispiel die Autorin Emilia Roig vergangene Woche im Spiegel-Interview, dass Israel im Gaza-Streifen nur deshalb Fluchtrouten einrichte, »damit die Menschen durch die Gegend gescheucht und besser getroffen werden können« – Israel locke demnach Zivilisten also aus dem Kampfgeschehen, um sie hernach leichter vernichten zu können.

Ein naheliegendes Programm für eine »propalästinensische« Protestbewegung könnte sein, das Ende der israelischen Besatzung zu fordern, damit ein unabhängiger, demokratischer Staat für Palästinenser entstehen kann. Aber viele Forderungen der »Palästinasolidarität« scheinen den vorrangigen Zweck zu haben, sich von genau diesem Programm zu distanzieren. Man ist nicht gegen die Besatzung der Westbank, sondern hält die Existenz Israels an sich für eine Besatzung. Man will keinen eigenen Staat für Palästinenser, sondern die Gründung Israels rückgängig machen. Israel muss weg, dann wird alles gut.

Beim harten Kern der Aktivisten handelt es sich um Menschen, denen nicht das Leiden der Palästinenser besonders nahegeht, sondern die sich an den extremsten Strömungen in den Palästinensergebieten berauschen. Und damit kein Friedens-, sondern ein Kriegsprogramm vertreten – dessen Konsequenzen natürlich andere ausbaden müssen.