Das deutsche Netzwerk der islamistischen türkischen Partei Yeniden Refah Partisi

Erbakans Erben

Ein Netzwerk um die 2018 gegründete islamistische türkische Partei Yeniden Refah Partisi propagiert in Deutschland seit einiger Zeit wieder verstärkt das Gedankengut des antisemitischen Gründers von Millî Görüş, Necmettin Erbakan.

Der Moscheeverband Islamische ­Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) ist ­einer der größten Islamverbände Deutschlands. Eigenen Angaben zufolge unterhält die IGMG weltweit 518 Moscheen, davon 323 in Deutschland. Kritiker werfen dem Verband vor, sich nie von dem antisemitischen und ultranationalistischen Gedankengut ihres Gründers Necmettin Erbakan (1926–2011) gelöst zu haben. Zu dessen zwölften Todestag im Februar 2023 gedachte der IGMG-Vorsitzende Kemal Ergün in einem Facebook-Post »mit Wohlwollen und Dankbarkeit« des »wertvollen Wissenschaftlers und Politikers«.

Tatsächlich wird die politische Ideologie Erbakans in Deutschland seit einigen Jahren wieder verstärkt propagiert. Dahinter steckt ein breites Netzwerk aus Stiftungen und Jugendorganisationen um die 2018 gegründete islamis­tische türkische Partei Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei, YRP), die von Erbakans Sohn Fatih geleitet wird.

In den sechziger Jahren gründete Necmettin Erbakan die Bewegung Millî Görüş als türkischen Ableger der islamistischen Muslimbruderschaft.

Der ältere Erbakan war über viele Jahre ein führender Politiker der türkischen Rechten. In den sechziger Jahren gründete er die Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht, MG) als türkischen Ableger der islamistischen Muslimbruderschaft. Er gilt als ein wichtiger Wegbereiter des türkisch-islamischen Antisemitismus. »Die einzelnen antise­­mitischen Geschichten, die sich in Erbakans Äußerungen finden«, heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie zur Millî-Görüş-Ideologie der Wissenschaftler Heiko Heinisch, Hüseyin Çiçek und Jan-Markus Vömel, »handeln letztlich immer vom Gleichen: einem jüdischen Netz, das nach und nach alle ­Bereiche von Politik und Wirtschaft durchdringe, die Macht an sich reiße und das Schicksals der Welt bestimme.« Letztlich laufe Erbakans Weltsicht auf »eine Auseinandersetzung zwischen Islam und Judentum/Zionismus, zwischen Muslimen und Juden hinaus«.

In der Tradition der »Protokolle der Weisen von Zion« popularisierte Erbakan eine türkische Variante des Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Das Osmanische Reich zum Beispiel sei die islamische Gegenmacht zum »Weltzionismus« gewesen, deshalb habe der Zionistische Weltkongress beschlossen, das Reich zu vernichten. Das sei den Zionisten dann unter anderem mit Hilfe von »Dönme«, also zum Schein zum Islam konvertierten Juden, gelungen.

Auch aus diesem Motiv strebte Erbakan die Beseitigung der laizistischen Republik Türkei an. Seine Vision war eine vereinte islamische Ummah, die unter der Führung der Türkei »eine neue Welt und eine gerechte Ordnung« (»yeni bir dünya ve adil düzen«) aufbauen würde. Neben diesem Traum vom islamischen Weltstaat übernahm Millî Görüş seit den achtziger Jahren immer mehr Konzepte der türkisch-nationalistischen Ülkücü-Bewegung (»Graue Wölfe«). Diese glaubt an die rassische und kulturelle Überlegenheit des durch den Islam zusätzlich veredelten Türkentums, die sogenannte »Türkisch-Islamische Synthese«.

Necmettin Erbakans ­Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) war von 1996 bis zum Militärputsch im folgenden Jahr an der Regierung beteiligt, mit Erbakan als Ministerpräsidenten. Nach dem Putsch wurde die Refah Partisi verboten. In ihrer Nachfolge entstand 2001 die Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei), die Erbakan bis 2011 führte – und im selben Jahr auch die AKP unter dem neuen starken Mann der MG-Bewegung, Recep Tayyip Erdoğan.

Deutschland ist das zweitwichtigste Aktionsfeld von Millî Görüş, mit dem Moscheeverband IGMG als dominierender Organisation der Bewegung. In der Öffentlichkeit mäßigten sich die leitenden Funktionäre der IGMG seit den nuller Jahren und bezogen sich weniger stark auf Erbakan, an der Basis blieb der als Führer (»lider«) verehrte Gründer jedoch populär. Zu verschiedenen Parteien, Stiftungen und Organisationen aus der türkischen MG-Be­wegung bestehen bis heute intensive Kontakte.

Seit einigen Jahren formiert sich ­gerade aus diesen Kreisen ein Netzwerk von Organisationen, das es sich zum Ziel gesetzt hat, die Ideologie Erbakans wieder offensiv innerhalb der deutschen MG-Bewegung zu verbreiten, dar­unter die eingangs erwähnte YRP. Sie ist eine Abspaltung der Saadet Partisi und vertritt eine radikale Interpreta­tion des Gedankenguts Erbakans und der »Türkisch-Islamischen Synthese«. Im Gegensatz zur Saadet Partisi unterstützte die YRP bei der Präsidentschaftswahl 2023 Erdoğans Kandi­datur und auch seinen Wahlkampf in Deutschland.

Eng verbunden mit der YRP ist die Erbakan-Stiftung (Necmettin Erbakan Vakfı), die von Fatih Erbakan und an­deren hohen YRP-Funktionären geleitet wird. Die Stiftung dient als politische Vorfeldorganisation: Sie verlegt Necmettin Erbakans Schriften, organisiert Konferenzen, Gedenkveranstaltungen und politische Fortbildungskurse für Politiker und Nachwuchsorganisationen der YRP.

In Deutschland ist die YRP vor allem durch den deutschen Ableger der Er­bakan-Stiftung vertreten (Erbakan Vakfı Almanya, EVA). An der Spitze der EVA steht Sedat Köse. Regionalverbände besitzt die EVA in Berlin, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, wo ein Regionalrepräsentant 16 Städtegruppen vorsteht.

»Der Weltzionismus versucht, die gesamte Menschheit zu Sklaven zu machen.« Fatih Erbakan, Vor­­sitzender der Yeniden Refah Partisi

Die türkische Nachrichtenseite Davam Haber berichtete von einer Führungsschulung der YRP, die 2022 in Istanbul stattfand. Es nahmen EVA-Regionalvertreter aus Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen teil. Fatih Erbakan habe dort gesagt, der »Weltzionismus« versuche, »die gesamte Menschheit zu Sklaven zu machen«. Hinsichtlich der Rolle der EVA habe er hinzu­gefügt: »Als Millî-Görüş-Mitglieder und Mitglieder der Erbakan-Stiftung spielen wir eine historische Rolle und müssen mit aller Kraft daran arbeiten, die islamische Welt zu vereinen, die Spiele des Weltzionismus zu stören und eine neue Welt zu errichten, so wie es unser Anführer Erbakan 40 Jahre lang getan hat.«

2018 wurde die Jugendorganisation Avrupa Gençlik Derneği (Europäischer Jugendverband, AGD) gegründet. Ihr Motto »yeni bir dünya« (eine neue Welt) weist sie als Erbakan-treue Organisation aus. Der AGD verfügt über 21 Zweigstellen in zahlreichen europäischen Ländern. Für Deutschland existiert der Dachverband Avrupa Gençlik Derneği Almanya e. V. mit Sitz in Berlin.

Bremen ist heute neben Berlin ein Schwerpunkt der AGD. Seit 2022 besitzt sie ein offizielles Büro im Stadtteil Osterholz, wo regelmäßig Veranstaltungen mit Vertretern des MG-Umfelds stattfinden. Am 31. Dezember zum Beispiel gab es dem Facebook-Account der AGD Bremen zufolge eine Veranstaltung mit dem Titel »Eroberung von Mekka und Jerusalem«. In dem Facebook-Post hieß es, man danke dem Bremer Regionalpräsident der Erbakan-Stiftung, Cemal Gülalan, dem Bremer Regionalvorsitzenden der Saadet Partisi, Muhammed Karabacak, sowie »allen unseren Brüdern, die teilgenommen haben«. Frauen waren auf den beigefügten Fotos der Veranstaltung nicht zu sehen.