Rezension zu Özge İnans Roman »Natürlich kann man hier nicht leben«

Die Flucht vor den Wölfen

Die Berliner Journalistin Özge İnan hat mit einem autobiographisch geprägten Roman ihr literarisches Debüt vorgelegt. Es geht um die Proteste im Gezi-Park, Graue Wölfe und generationsspezifische Erfahrungen.
Buchkritik Von

Özge İnans kluge und humorvolle Kurznachrichten sind ein Grund, sich noch auf Twitter/X herumzutreiben. Nun hat die in Berlin lebende Journalistin mit dem Roman »Natürlich kann man hier nicht leben« ihr literarisches Debüt vorgelegt, das von ihrer eigenen Familiengeschichte inspiriert ist.

»Hier« – damit ist die Türkei nach dem Militärputsch von 1980 gemeint. Die Handlung setzt 2013 in Berlin ein. Die jugendliche Nilay verfolgt in den Medien die Proteste im Gezi-Park. Sie will aber selbst dabei sein, wenn gegen das AKP-Regime aufbegehrt wird.

Die Eltern sind von dem Vorhaben der Tochter, nach Istanbul zu reisen, gar nicht begeistert. Dabei haben sie selbst seinerzeit in der Türkei aufbegehrt. Nilays Vater Selim hat sich in seiner Jugend politisiert, unter dem Ladentisch Marx und Lenin verkauft und wurde von den faschistischen Grauen Wölfen verprügelt; ihre Mutter Hülya, fest entschlossen, sich von der tradierten Rolle der Hausfrau und Mutter zu lösen, begann ein Medizinstudium und engagierte sich in der feministischen Bewegung.

Die Geschichten der Tausenden Oppositionellen, die die Türkei in den achtziger und neunziger Jahren aus politischen Gründen verließen und in Deutschland oder anderen europäischen Ländern neu anfingen, sind hierzulande kaum bekannt.

Die Autorin schildert eine ereignisreiche Familiengeschichte und zeigt generationsspezifische Erfahrungen. Das Private ist politisch in ihrem Roman, ohne dass die Figuren als Exponent:innen ­einer Partei oder einer Idee dienen oder die erzählten Biographien dafür herhalten müssten, die politischen Verwerfungen der ­jüngeren türkischen Geschichte darzustellen.

Autor:innen wie Emine Sevgi Özdamar und Semra Ertan haben die deutschsprachige Literatur um die Geschichten der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei bereichert. Die Geschichten der Tausenden Oppositionellen, die die Türkei – wie Hülya und Selim – in den achtziger und neunziger Jahren aus politischen Gründen verließen und in Deutschland oder anderen europäischen Ländern neu anfingen, sind dagegen kaum bekannt. Auch ihre Geschichte ist, sagt die Autorin, »deutsche Zeitgeschichte«.


Buchcover Özge İnan

Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht ­leben. Piper-Verlag, München 2023, 240 Seiten, 24 Euro