Die Bundesländer schieben Yeziden in den Irak ab

Abschiebungen ermöglichen

Die Bundesregierung behauptete vergangenes Jahr noch, yezidisches Leben zu schützen. Mittlerweile werden Yeziden wieder in den Irak abgeschoben.
Kommentar Von

Vor einem Jahr, am 19. Januar, erkannte der Bundestag die Verbrechen des »Islamischen Staats« (IS) gegen die Yeziden (auch Jesiden oder Êzîden) als Völkermord an. Für die Grünen hatte der Abgeordnete Max Lucks in der Debatte bekundet, Deutschland nehme sich des Schutzes des yezidischen Lebens an. Für die CDU/CSU sagte Michael Brand (CDU), Fraktionssprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Bundestag gehe auch die Verpflichtung ein, den Opfern des Genozids hilfreich zur Seite zu stehen – und das »auf Dauer«. Und für die SPD versprach Derya Türk-Nachbaur, Deutschland versuche, den Opfern »Würde, Identität und Sicherheit« zurückzugeben.

Wenn man sich nun fragt, was diese erhebenden Worte und vor ­allem die Anerkennung eines Genozids durch den deutschen Bundestag konkret bedeuten, dann wird man mittlerweile kaum umhin kommen festzustellen: nichts. Ein paar Monate nach dem feierlichen Akt begannen einige Bundesländer – Bayern und Hessen etwa –, irakische Yeziden abzuschieben. Dabei hatte die Bundesregierung Abschiebungen in den Irak im März noch als »nicht zumutbar« bezeichnet.

Diese Abschiebungen sind Ländersache und vielleicht hatten die rund ein Dutzend Yeziden, die bisher abgeschoben wurden, einfach nur das Pech, das sich bei den deutschen Behörden niemand wirklich dafür interessiert, welche Iraker man da eigentlich zurückschickt. Tatsächlich wird die Religionszugehörigkeit der Asylsuchenden nicht erfasst, weswegen auch nicht klar ist, wie viele Yeziden unter den von Abschiebung bedrohten Irakern sind.

Holger Geisler, ehemaliger Sprecher des Zentralrats der Yeziden in Deutschland, schätzt, dass 30.000 der in Deutschland lebenden Yeziden nur eine Duldung besitzen und daher von Abschiebung bedroht seien. Dass aber nur 132 Menschen 2023 in den Irak abgeschoben wurden, zeigt, wie sehr es hier um Symbolpolitik geht. Die ständige Angst, irgendwann gehen zu müssen, ist jedoch real und bleibt für Abertausende.

Die Hauptsache war offenbar, dass man überhaupt Iraker loswerden konnte, schließlich ist das Wort »Rückführungen« seit dem Sommer aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen zum Mantra geworden. Und mit dem Irak ist im Frühsommer ein Abkommen ausgehandelt worden, das künftig vermehrte Abschiebungen ermöglicht. Das sollte offenbar geheim bleiben und wurde erst nach einer Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung im Dezember bekannt.

Als eines der maßgeblichen Herkunftsländer von Geflüchteten in der Region bietet überhaupt nur der Irak die Aussicht, dorthin in Zukunft eine nennenswerte Zahl von Menschen abzuschieben. Tatsächlich hat sich hier nach den langen Jahren von Bürgerkrieg und IS-Terrorherrschaft die innenpolitische Lage deutlich stabilisiert. Das gilt allerdings nicht für die sogenannten »umstrittenen Gebiete«, einen breiten Gebietsstreifen entlang der kurdischen Autonomieregion, an dessen äußerem nordwestlichen Ende, nahe der Grenze zu Syrien, das Bergmassiv des Sinjar (oder auf Kurdisch Shingal) liegt.

Der Großteil der im Irak verbliebenen Yeziden, mindestens 200.000 Menschen, haust in Flüchtlingslagern in der kurdischen Autonomieregion.

Hier, in ihrem Hauptsiedlungsgebiet, wurden die Yeziden 2014 vom IS überfallen. Und fast zehn Jahre später, die Niederlage des IS liegt auch schon Jahre zurück, haust weiterhin der Großteil der im Irak verbliebenen Yeziden, mindestens 200.000 Menschen, in Flüchtlingslagern in der kurdischen Autonomieregion.

Ihre Rückkehr in ihre Heimatorte verhindert nicht nur die weit­gehende Zerstörung des Gebiets. Dorthin sollen zwar viele Wiederaufbaugelder geflossen sein, nur ist davon überraschend wenig zu sehen. Zudem und vor allem ist der Sinjar weiterhin eine umkämpfte Zone. Wie überall in den »umstrittenen Gebieten« gibt es hier einen Konflikt zwischen den nordirakischen kurdischen Parteien und der irakischen Zentralregierung.

Dazu kommt im Sinjar die Anwesenheit der kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihrer lokalen Ableger, von denen einige Mitglieder der vom Iran kontrollierten »Volksmobilisierungseinheiten« sind, sowie diverser weiterer lokaler Milizen. Dass sich die PKK in der Region festgesetzt hat, hat türkische Luftangriffe nach sich gezogen. Und die ehemaligen lokalen IS-Mitglieder suchen und finden neue Arbeitgeber bei den vielen Milizen. Der irakische Staat ist zwar auch präsent, konnte das Gebiet aber bisher nicht unter Kontrolle bringen – was vielen Yeziden als Voraussetzung für eine sichere Rückkehr gilt.

Dass in dieser Gegend Ruhe einkehren wird, ist eigentlich erst zu erwarten, wenn der Konflikt im benachbarten Syrien gelöst werden sollte. Der Sinjar ist allerdings für zu viele Akteure strategisch zu wichtig. Aufgrund des fehlenden verlässlichen Schutzes durch den irakischen Staat, und weil religiöse Diskriminierung gegen Yeziden unter den irakischen Muslimen weitverbreitet ist, ist eine individuelle Ansiedlung irgendwo anders im Irak nur eine Fiktion.

Wer kein Geld hat, dem bleiben die Lager, mit Zelten, die dort einmal vor knapp zehn Jahren als Nothilfsmaßnahme aufgestellt wurden. Im Sommer bei 50 Grad Hitze und im Winter bei Schnee oder Regen bleibt dann viel Zeit, um über »Würde, Identität und Sicherheit« und wohlklingende deutsche Bundestagsbeschlüsse nachzudenken.