Die Lage in der Westbank

Eine Handvoll Extremisten

In der Westbank hat seit Beginn des Gaza-Kriegs die Zahl der Übergriffe radikaler israelischer Siedler auf Palästinenser zugenommen. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, hat derweil kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung.

Jerusalem. Bei seinem Besuch in Israel am Montag betonte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Israels Recht auf Selbstverteidigung, drängte aber auch auf den Schutz palästinensischer Zivilisten im Gaza-Streifen. Er habe sich mit seinem israelischen Amtskollegen Yoav Gallant darüber ausgetauscht, wie sich die Zahl ziviler Opfer reduzieren lässt und ein Übergang von der derzeitigen »hochintensiven« Form der Kriegsführung zu einer Phase der eher »chirurgischen Bodenoperationen« gestaltet werde kann, sagte Austin in einer gemeinsamen Pressekon­ferenz.

Austin äußerte sich auch zur Lage in der Westbank, die dringend »stabilisiert« werden müsse: »Angriffe extremistischer Siedler auf Palästinenser in der Westbank müssen aufhören.« Einer Resolution der britischen Regierung zufolge, die auch von der EU und 13 weiteren Ländern unterzeichnet wurde, sind seit Anfang Oktober acht Palästinenser bei 343 gewalttätigen Übergriffen durch Siedler ums Leben gekommen, 83 verletzt und 1.026 aus ihren Häusern vertrieben worden. Israels rechtsextremer Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir hatte nach dem 7. Oktober dazu aufgerufen, Tausende von Sturmgewehren an Siedler zu verteilen.

Wie die Times of Israel berichtet, hat die israelische Armee seitdem in der Westbank über 2.400 gesuchte Palästinenser festgenommen, darunter mehr als 1.200 Hamas-Mitglieder. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums der PA wurden demnach in dieser Zeit rund 280 Palästinenser im Westjordanland von Israelis oder israelischen Streitkräften getötet; Schätzungen des Militärs zufolge wurde die überwiegende Mehrheit bei Razzien erschossen, und viele Getötete waren mit einer Schusswaffe oder einem Sprengsatz bewaffnet gewesen.

In einer Regierungsmitteilung ­Anfang November hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ­gewalttätige Siedler aus der Westbank als »eine kleine Handvoll von Extremisten« bezeichnet, welche die jüdische Bevölkerung in der Westbank nicht repräsentiere und gegen die man mit »mit der ganzen Strenge des Gesetzes« vorgehen werde. Die von der britischen Regierung veröffentlichte Resolution fordert, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Die USA und Großbritannien haben angekündigt, extremistischen Gewalttätern aus den jüdischen Siedlungen der Westbank die Einreise in ihre Länder zu verweigern.

Derweil kommt eine Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research zu dem Ergebnis, dass 82 Prozent der Palästinenser in der Westbank den Angriff der Hamas auf Israel vom 7.Oktober für richtig halten. Marwan Barghouti, der dieser Umfrage zufolge präferierte Kandidat der Palästinenser in der Westbank für die Leitung der PA, hatte einem Bericht der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth zufolge kürzlich das Sicherheitspersonal der PA dazu aufgefordert, sich dem »umfassenden Widerstand in allen palästinensischen Gebieten« anzuschließen. In seinem Aufruf sagte er: »Lasst uns jedes palästinensische Haus in eine Hochburg der Revolution und jeden in einen Soldaten auf dem Schlachtfeld verwandeln. Das Blut unserer Kinder, Frauen, Alten und unserer Widerstandskämpfer wird den Weg zur Freiheit und Unabhängigkeit ebnen.«

Gäbe es Wahlen zum Präsidenten der PA in Ramallah, würde Marwan Barghouti nach der jüngsten Umfrage 55 Prozent der Stimmen aus der Westbank bekommen.

Barghouti gehört der Fatah-Partei von Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas an und gilt als Anführer der Ersten und Zweiten Intifada, in deren Verlauf mehr als 1.000 Israelis getötet wurden. Er kommunizierte seinen Aufruf aus einem israelischen Gefängnis, in dem er seit 2002 eine lebenslange Haftstrafe für 26fachen Mord und versuchten Mord verbüßt. Gäbe es Wahlen zum Präsidenten der PA in Ramallah, dann würde er nach der jüngsten Umfrage 55 Prozent der Stimmen aus der Westbank bekommen, Amtsinhaber Abbas nur drei Prozent. 39 Prozent der Palästinenser in der Westbank favorisieren den Vorsitzenden des Politbüros der Hamas, Ismael Haniya. 44 Prozent der Befragten un­terstützen die Hamas, nur 16 Prozent die Fatah von Präsident Abbas. Rund 90 Prozent wollen, dass Abbas zurücktritt.

Öffentlich gefeiert wurde die Hamas in den Straßen der Westbank, nachdem es ihr gelungen war, im Austausch für von ihr nach Gaza verschleppte israelische Geiseln, palästinensische Gefangene aus israelischen Justizvollzugsanstalten freizupressen. Von den 240 Palästinensern, die während der Feuerpause im Gaza-Krieg Ende November im Austausch für 80 von der Hamas entführte israelische Geiseln freigelassen wurden, kamen der New York Times zufolge 155 aus der Westbank, 72 aus Ostjerusalem und nur einer aus dem Gaza-Streifen. Noch während der Feuerpause ­töteten zwei Hamas-Terroristen aus Ost-Jerusalem in der Stadt vier Israelis.

Seit dem Überfall der Hamas lässt Israel keine palästinensischen Arbeiter mehr ins Land. Einerseits führt das zu einem enormen Arbeitskräftemangel in Israel. Anderseits befürchten Vertreter der israelischen Sicherheitsbehörden, dass die gesteigerte Arbeitslosigkeit unter den Palästinensern der Westbank zu deren Radikalisierung beiträgt, wie israelische Medien berichten.

Deshalb sprachen sie sich dafür aus, palästinensische Arbeiter wieder in größerer Zahl nach Israel zu lassen. Obgleich der Vorschlag von Netanyahu unterstützt wurde, fand er in den politischen Gremien nicht die erforderliche Mehrheit. Gegner der Regelung wiesen darauf hin, dass palästinensische Arbeiter aus dem Gaza-Streifen Informationen gesammelt hatten, welche die Hamas für die Planung ihrer Angriffe vom 7. Oktober nutzte.

Die USA wollen, dass der Gaza-Streifen nach dem Sturz der Hamas von der PA in Ramallah verwaltet wird. Bei einem Treffen in der Hauptstadt der Westbank am Freitag vergangener Woche sprachen der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, und Abbas »über Gaza nach dem Krieg und eine reformierte und wiederbelebte Palästinensische Autonomiebehörde, die Verantwortung für die Zukunft des palästinensischen Volkes« habe, so der Sprecher des US-Sicherheitsrats, John Kirby, in einer Pressekonferenz.

Netanyahu hat sich hingegen mehrfach gegen eine Verwaltung des Gaza-Streifens durch die PA ausgesprochen. Bei einer Pressekonferenz vergangene Woche Samstag sagte er: »Bis zu diesem Moment weigern sich die Führer der palästinensischen Autonomiebehörde, das Massaker vom 7. Oktober zu verurteilen. Einige von ihnen bejubeln es sogar. Und die sollen Gaza nach dem Krieg regieren? Nach der Zerstörung der Hamas wird Gaza demilitarisiert sein. Es wird unter der sicherheitspolitischen Kontrolle Israels stehen.« Gallant wiederum sagte bei der Pressekonferenz am Montag, dass Israel nicht vorhabe, die zivile Verwaltung Gazas zu kontrollieren. Man sei dabei, Beziehungen zu nicht feindlich gesinnten Akteuren auf der anderen Seite aufzubauen.