Verschwörungstheorie gegen Israel

Friendly Fire statt Hamas

Eine perfide Verschwörungstheorie verbreitet sich im Internet: Für die Opfer des 7. Oktober sei überwiegend die israelische Armee, nicht die Hamas verantwortlich.

Auf seinem Blog »The Grayzone« veröffentlichte der Journalist Max Blumenthal am 27. Oktober einen Artikel, in dem er die Frage stellte: »Wie viele ­israelische Bürger, von denen man sagte, sie seien ›lebendig verbrannt‹ worden, wurden eigentlich durch Eigenbeschuss getötet?«

Blumenthals Text legt insbesondere drei Schlussfolgerungen nahe: Am 7. Oktober habe es heftigen Eigenbeschuss durch israelische Truppen gegeben. Die Hamas sei deutlich weniger martialisch vorgegangen als von Israel behauptet. Die Berichterstattung über die »Gräueltaten« sei für Israel jedoch wichtig gewesen, um seine Luftan­griffe auf den Gaza-Streifen zu rechtfertigen.

Einer der wenigen handfesten Beweise, die Blumenthal vorbringt, ist eine Aussage der Geisel Yasmin Porat. Sie war Teilnehmerin des Supernova-Raves und floh nach dem Überfall der Hamas ins Kibbuz Be’eri. Dort wurde sie von der Hamas als Geisel genommen. Im Austausch für den Erhalt des Lebens ­eines Geiselnehmers sei sie den israelischen Sicherheitskräften übergeben worden. Daraufhin habe sie gesehen, wie israelische Panzer ein Haus beschossen, in dem sich außer Terroristen auch acht Geiseln befunden hätten. Ihre Geschichte erzählte sie in abgewandelter Form diversen Fernsehsendern und dem israelischen Radiosender Kan.

»Israel hat 80 Prozent der zivilen Opfer am 7. Oktober selbst getötet«, so lautet die extreme Ausprägung einer These, die seit Wochen im Internet kursiert.

Eine für Blumenthals Darstellung zentrale Behauptung lautet, dass israelische Apache-Kampfhubschrauber ­Zivilisten beschossen hätten. Blumen­thal zieht hierfür vage Aussagen von Piloten heran. Diese berichteten davon, wie schwierig es am 7. Oktober gewesen sei, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden. Ein Pilot sagte, er habe Ziele so ausgewählt, »dass die Chance, auch Geiseln zu treffen, möglichst gering ist«. Völlig sicher habe er sich aber nicht sein können.

Blumenthal verlinkt in seinem Text zudem ein Video. Es soll den Zielradar eines israelischen Helikopters AH-64 Apache dabei zeigen, wie er fliehende Menschen und Autos beschießt. Daraus soll hervorgehen, dass die Piloten unmöglich zwischen Freund und Feind hätten unterscheiden können.
Eine wichtige Rolle spielen zudem die Bilder verkohlter Leichen. Die »leicht bewaffneten Hamas-Kämpfer«, so Blumenthal, hätten solch schwere Verbrennungen gar nicht herbeiführen können; auch die teils schweren Schäden an Fahrgestellen von Autos nicht.

So fügt Blumenthal die Berichte von Geiseln wie Yasmin Porat und die Aussagen der Piloten zu einem scheinbar schlüssigen Bild zusammen. Vor allem aber entlastet er die Hamas von einem der am schwersten wiegenden Vorwürfe gegen sie: Menschen lebendig verbrannt zu haben. Die Verbrennungen deuteten vielmehr auf den Beschuss mittels Hellfire-Raketen hin, so Blumenthal. Sie seien demnach von den Israelis selbst verursacht worden.

Am 10. November hatte das israelische Außenministerium die israelischen Opferzahlen von 1.400 auf 1.200 nach unten korrigiert. »Es gab Leichen, die waren so schwer verbrannt, wir dachten, es wären unsere, dabei waren es Hamas-Terroristen«, so der Berater Benjamin Netanyahus, Mark Regev, dazu am 17. November auf CNN.

Am 18. November erschien außerdem ein Artikel in der israelischen Zeitung Haaretz. Darin heißt es unter ­Berufung auf eine Polizeiquelle, am Supernova-Festival eintreffende IDF-Hubschrauber »haben anscheinend auch einige Festival-Besucher getroffen«. Der Times of Israel zufolge hat die Polizei den Haaretz-Bericht dementiert.

Die Korrektur der Opferzahlen und Regevs Verweis auf deren Ursache sowie der Haaretz-Artikel dienen seitdem dazu, Blumenthals Raunen als handfesten Tatsachenbericht darzustellen. So sagte der ehemalige UN-Waffeninspekteur und »Putin-Apologet« (FAZ) Scott Ritter nach der Korrektur der Opferzahlen, das israelische Militär habe »80 Prozent der zivilen Opfer am 7. Oktober selbst getötet«. Ein Video von ihm mit dieser Aussage ­zirkuliert in unterschiedlichen Varianten auf X.

Ein anderer Post auf X verbindet die Behauptung aus dem Haaretz-Artikel mit den ohnehin schon virulenten Spekulationen um das Video des Apache-Helikopters, auf das sich auch Blumen­thal bezog. In dem Post heißt es, es sei nun wohl bestätigt, dass israelische Kampfhubschrauber »die meisten Festivalbesucher getötet haben, die vom Festival flohen«. Die haltlose Schlussfolgerung: »Das israelische Militär ist der größte Schlächter des 7. Oktober.« Der Post wurde auf X bisher über neun Millionen Mal angesehen.

Der Times of Israel zufolge beruft sich auch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah auf das »Friendly Fire«-Geraune. In einem mittlerweile gelöschten Social-Media-Post hat sie demnach behauptet, dass die Besucher des Supernova-Festivals am 7. Oktober durch den Beschuss israelischer Kampfhubschrauber getötet worden seien – »als Teil des sogenannten ›Hannibal-Protokolls, das der Besatzungspolizei und -armee erlaubte, jeden zu töten«, so die Times of Israel.

Der Hannibal-Direktive zufolge ­waren israelische Armeeangehörige offenbar dazu angehalten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um zu verhindern, dass Soldatinnen und Soldaten als Geiseln genommen werden, auch wenn dies deren Leben gefährde. Die umstrittene Direktive war 2016 zurückgenommen worden.