Der Pilz in Lenin
Die meisten Russinnen und Russen können sich ein Leben ohne Pilze nicht vorstellen. Sie sind regelrecht besessen von ihnen. Dass derlei auch in einem ganz wörtlichen Sinne denkbar ist, ja genau ein solcher Fall den Verlauf der russischen Geschichte im Jahr 1917 auf revolutionäre Weise verändert haben könnte, dürfte lange Zeit kaum jemandem in den Sinn gekommen sein. Bis zum Januar 1991, als die Sendung »Das fünfte Rad« im in der ganzen Sowjetunion empfangbaren Kanal Leningrader Fernsehen ausgestrahlt wurde. In der Sendung stellte der Musiker und Künstler Sergej Kurjochin die Vorstellungen der sowjetischen Bevölkerung darüber, wovon sich der Revolutionsführer Wladimir Lenin einst leiten ließ, völlig auf den Kopf.
Kurjochin hatte schon immer einen Hang zu unkonventionellen Gedankenspielen. In der experimentierfreudigen Leningrader Kulturszene hatte er in den achtziger Jahren als dem Mainstream abgewandter Avantgarde-und Rockmusiker Bekanntheit erlangt. Im Januar 1991 schwadronierte er im Fernsehen im Gespräch mit dem Journalisten Sergej Scholochow über die Wirkung halluzinogener Pilze – mit aller wissenschaftlich fundierten Ernsthaftigkeit, die es brauchte, um beim sowjetischen Fernsehpublikum Eindruck zu machen. Er versprach, die letzten Geheimnisse der Oktoberrevolution zu lüften, und präsentierte folgende These: Lenin müsse die Oktoberrevolution bereits gesehen haben, bevor sie eingetreten sei – anders sei dieses mächtige Ereignis gar nicht vorstellbar.
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