Populismus für den Status quo
Sie hat es lange genug hinausgezögert. Als Sahra Wagenknecht vergangene Woche ihren Austritt aus der Linkspartei und die Gründung zunächst eines Vereins, für den Januar auch einer eigenen Partei namens »Bündnis Sahra Wagenknecht« verkündete, dürfte bei den meisten ihrer ehemaligen Parteigenossen die Erleichterung groß gewesen sein. Die jahrelange lähmende Selbstzerfleischung der Partei hat nun womöglich ein Ende.
Mit Wagenknecht auf den Weg zur neuen Partei machen sich genau jene Bundestagsabgeordneten, denen man diesen Schritt längst zugetraut hatte: Amira Mohamed Ali, Ali Al-Dailami, Sevim Dağdelen, Klaus Ernst, Andrej Hunko, Christian Leye, Żaklin Nastić, Jessica Tatti und Alexander Ulrich. Keinerlei Überraschungen enthält auch das »Manifest« der neuen Formation. Es liegt ganz auf der Linie des Linkskonservatismus, den Sahra Wagenknecht in den vergangenen Jahren in ihren Büchern entwickelt hat. Nicht nur der Name, auch das vorläufige Programm der kommenden Partei lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wer in ihr das Sagen haben wird.
Im Mittelpunkt der ersten Pressekonferenz stand die Rückkehr zur »wirtschaftlichen Vernunft«. Dass Wagenknecht gezielt um die Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen warb und sich für die Interessen der deutschen Industrie aussprach, dürfte nur jene verwundert haben, die sich entgegen jeglicher Evidenz von ihr eine Rückkehr zu traditionslinkem Klassenkampf erhofft hatten. Sahra Wagenknecht war schon in jenen fernen Tagen, in denen sie noch als Gesicht der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS fungierte, keine Kommunistin. Sie bewunderte vielmehr den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht gerade dafür, dass er den Versuch unternommen hatte, die DDR marktwirtschaftlich zu reformieren. Schon seit vielen Jahren wirbt Wagenknecht in ihren Büchern für eine Gesellschaft, in der es »selbstverständlich immer noch Ungleichheit« gibt, »mehr Wettbewerb, nicht weniger« herrscht und das Recht von gewitzten Unternehmern, »sehr reich zu werden«, nicht angetastet wird.
Es ist eine neuartige Kombination von sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Ansätzen, mit der Wagenknecht eine »Lücke im Parteiensystem« zu schließen hofft.
Nun plädiert Wagenknecht für eine »faire Leistungsgesellschaft« und verspricht einmal mehr, die Tradition der »sozialen Marktwirtschaft« wiederzubeleben – wohl keine schlechte Taktik angesichts der im krisengebeutelten Deutschland verbreiteten Sehnsucht nach einer vermeintlich guten alten Zeit. Nach Vergesellschaftung ruft Wagenknecht nicht mehr, anders als noch in ihrem Buch »Freiheit statt Kapitalismus« (2011) – wohl um die Unternehmerklasse nicht zu verschrecken.
Die wird sich aber trotzdem fragen, wie die Umverteilung, die Investitionen und die Sozialausgaben, die das Manifest des BSW fordert, finanziert werden sollen. Auch die Absicht, die Tarifbindung zu stärken, dürfte nicht bei allen Unternehmern Begeisterung auslösen. In dem Bemühen, die Interessen von Beschäftigten und Unternehmern gleichermaßen zu vertreten, holt sich Wagenknecht den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in ihre neue Partei. Das könnte noch für Ärger sorgen, sobald der Zauber der Phrase dem politischen Alltag weicht.
Im Einklang mit Wagenknechts ordoliberaler Grundhaltung steht ihr Eifern gegen »blinden Aktivismus« in der Klimafrage, die »unsere wirtschaftliche Substanz« gefährde. Die Klimakrise ist für das BSW offenbar kein allzu großer Grund zur Sorge. Sie könne gewiss durch die »Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien« bewältigt werden, heißt es im Manifest – ein Wunschdenken, wie man es auch von CDU und FDP kennt.
Von Wachstumskritik hielt Wagenknecht noch nie etwas. Vorläufig sollen russisches Öl und Gas wieder nach Deutschland strömen, um die Energiepreise für Industrie und Bevölkerung zu senken. Voraussetzung dafür wäre eine Verständigung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Wagenknecht wittert offenbar besonders in diesem Thema eine politische Chance. Allerdings konkurriert sie diesbezüglich mit der AfD – so wie es überhaupt keine einzige Forderung der kommenden Partei gibt, die nicht schon von einer bestehenden vertreten würde. Es ist nur eine neuartige Kombination von sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Ansätzen, mit der Wagenknecht eine »Lücke im Parteiensystem« zu schließen hofft.
Sahra Wagenknecht ist inzwischen eine Art Dieter Nuhr der deutschen Politik: Durchschnittsbürgerverstand, der sich als Rebellentum geriert.
Das ist der merkwürdigste Widerspruch dieser Parteigründung: Wagenknecht eifert in schrillem, populistischem Ton gegen die »schlechteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik« und verkündet zugleich ein inhaltlich äußerst biederes, kreuzbraves Programm. Hier wird ein halber Systemsturz ausgerufen, zugunsten einer Politik, die sich – sieht man von der Außenpolitik ab – irgendwo zwischen SPD und CDU bewegt. Keine neuen Ideen, keine Utopien nirgends.
Sahra Wagenknecht ist inzwischen eine Art Dieter Nuhr der deutschen Politik: Durchschnittsbürgerverstand, der sich als Rebellentum geriert. Damit könnte sie, wie der Vergleich nahelegt, durchaus Erfolg haben. Die Frage ist, wie lange das rhetorische Geschick von Wagenknecht die inneren Widersprüche der neuen Partei kaschieren kann. So fordert sie, dass sich eine starke EU aus der Konfrontation zwischen den USA und China heraushalten solle. Aber sie möchte zugleich die EU und ihre Institutionen entmachten und zu unabhängigeren Nationalstaaten zurückkehren. Würden die dann aber nicht von den Großmächten mit Leichtigkeit gegeneinander ausgespielt? Ähnlich rätselhaft: Wie soll der Staat den »Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts« stoppen, wenn ihm zugleich der Versuch, zerstörerischen Konsum und öffentliche Hetze zu reglementieren, als »Autoritarismus« angekreidet wird?
Sahra Wagenknechts Parteigründung beruht nicht auf der Idee, verschüttete linke Ideale wiederzubeleben, sondern auf dem Plan, alle linken Forderungen fallenzulassen, die derzeit bei der Mehrheit nicht populär sind. Das gilt insbesondere für das Streitthema Migration. Wagenknecht hofft, Menschen abzuwerben, die der AfD angeblich nur aus »Wut und Verzweiflung« ihre Stimme geben. Die »unkontrollierte Zuwanderung« müsse »gestoppt« werden, verkündete Wagenknecht auf der Pressekonferenz, durch Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und eine restriktive Ausländerpolitik nach dem Vorbild Dänemarks. Die populistische Herausforderin des »Establishments« bewegt sich hier also wiederum mehr oder weniger auf CDU-Linie.
Im Manifest ihres Bündnisses heißt es: »Migration ist nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt.« Das ist doch ein Stück entfernt von dem, was Wagenknecht zu Beginn ihrer politischen Karriere schrieb: »Aufnahme der zu uns kommenden Armen ist doch das Geringste, was man von einem Hauptverursacher dieser Armut erwarten kann.« Die unter ihren Fans beliebte Behauptung, Wagenknecht sei stets auf demselben Standpunkt geblieben, von dem die Linkspartei sich leider immer mehr entfernt habe, ist nicht nur in dieser Hinsicht unwahr. Wagenknecht ist im Laufe der Zeit deutlich nach rechts gerückt.
Für den Erfolg von Wagenknechts Idee sprechen die derzeit hohe Unzufriedenheit in der Bevölkerung und der selbstbetrügerische Wunsch vieler Bürger nach einer ganz anderen Politik, die doch alles beim Alten belässt.
Erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt predigt Wagenknecht den souveränen und egoistischen Nationalstaat als Heilmittel für alle Krisen der Gegenwart. In ihren frühen Schriften hatte sie noch eine »Abstimmung der Linken über nationale Grenzen hinweg« für »existentiell« gehalten und geglaubt, »im nationalen Rahmen allein« lasse sich »nichts mehr bewegen«. Dass sich beim BSW eine große Zahl von Politikerinnen mit migrantischer Herkunft für eine harte Migrationsabwehr einsetzt, ist ein neues, trauriges Beispiel für die alte Erfahrung, dass die Angekommenen oft zu Feinden derer werden, die gerne noch ankommen wollen.
Über das BSW liest man derzeit die gegensätzlichsten Prognosen. Die einen sagen ein klägliches Scheitern voraus, andere prophezeien einen triumphalen Erfolg. Beides ist gleichermaßen sinnlos. Über den Erfolg einer Partei, die es noch nicht gibt, in einer Zeit, die noch nicht da ist, lässt sich nur spekulieren. Für den Erfolg von Wagenknechts Idee sprechen die derzeit hohe Unzufriedenheit in der Bevölkerung und der selbstbetrügerische Wunsch vieler Bürger nach einer ganz anderen Politik, die doch alles beim Alten belässt. Gegen das BSW sprechen seine politische Widersprüchlichkeit, sein Mangel an eigenem Profil und seine fehlende Machtperspektive.
Wagenknechts Plan, bei allen Parteien einige Prozente einzusammeln, könnte zumindest anfangs aufgehen. Das könnte schon genug sein, um die Linkspartei endgültig zu erledigen, und vielleicht auch, um die AfD um einige sicher geglaubte Wahlsiege im Osten zu bringen. Wagenknecht wird sich nun auf unbarmherzige Angriffe von allen Seiten einstellen müssen. Doch alle, die jetzt schon sicher sind, dass so ein plumper, ideenloser politischer Versuch nur scheitern kann, sollten sich einmal umschauen, was gerade alles auf der Welt unwahrscheinliche Erfolge feiert.