Der arme Privatpatient
Er ist das Ziel ärztlicher Begierde. Daher wird er verwöhnt und gelockt: mit kurzen Wartezeiten in komfortablen Lounges, mit aufwendigen Untersuchungen durch teure Geräte. Aber der Privatpatient ist nicht mehr der, der er mal war – aus der goldenen Zeit, in der er Synonym für sprudelnde Geldquellen war, die ihren ärztlichen Betreuern Wohlstand und Anerkennung versprachen.
Mittlerweile ächzen diese ehemals umfassend Versicherten unter hohen Selbstbeteiligungen und manche sind durch Arbeitslosigkeit oder prekäre Selbständigkeit gezwungen, den Basistarif zu wählen. Dieser deckt nur die Leistungen ab, die auch die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt, und ist daher vergleichsweise günstig.
Noch immer verdienen Ärzte gut an den etwa 8,7 Millionen privat Krankenversicherten. Grundlage dafür ist die Gebührenordnung für Ärzte, ein Abrechnungskatalog, in dem alle medizinischen Leistungen kodiert sind.
Aber dennoch, alle Nostalgie beiseitelassend: Noch immer verdienen Ärzte gut an den etwa 8,7 Millionen privat Krankenversicherten. Grundlage dafür ist die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), ein Abrechnungskatalog, in dem alle medizinischen Leistungen kodiert sind. Die GOÄ ist zwar noch auf dem Stand der neunziger Jahre, lässt Medizinern aber viel Spielraum für kreative Rechnungsstellung: Aus der Entfernung eines Muttermals kann eine komplizierte Hautoperation, aus einem kurzen Gespräch eine aufwendige psychiatrische Diagnostik werden. Hinzu kommt, dass jede Leistung einzeln bezahlt und nicht, wie im System der gesetzlichen Krankenkassen, in Quartalspauschalen enthalten ist.
Die Konsequenzen sind fatal und allgemein bekannt: Arztpraxen werden in Gegenden mit hohem Anteil an Privatversicherten verlagert und diese bei der ambulanten und stationären Behandlung bevorzugt. Folglich finden sich weniger Ärzte in armen Stadtteilen oder auf dem Land und gesetzlich Versicherte müssen besonders auf Termine bei niedergelassenen Ärzten lange warten. Diese ziehen sich manchmal ganz aus der Versorgung von Kassenpatienten zurück und behandeln ausschließlich privat Versicherte oder selbst Zahlende. Das jedoch ist noch relativ selten, da der Anteil an Privatversicherten insgesamt niedrig ist: Fast neunzig Prozent der Patienten sind in den gesetzlichen Krankenkassen versichert und sind daher bestimmend für die ärztlichen Leistungen und somit auch für die daraus erzielten Einnahmen.
Anders als von vielen Kollegen behauptet, sind es also nicht die Privatpatienten, die mit ihren Beiträgen die medizinische Versorgung sicherstellen – ganz im Gegenteil wird die ambulante und auch die stationäre Infrastruktur überwiegend durch die Beiträge der gesetzlich Versicherten in einem weitgehend solidarischem System finanziert.
All dieser Ungerechtigkeit und Ungleichheit zum Trotz sieht der Hausarzt immer den Menschen hinter dem Selbstzahler oder Privatpatienten. Und als solchen bedauert er ihn, ja, er empfindet sogar Mitleid, denn in Wirklichkeit sind sie die Ärmsten der Armen, werden sie doch von ärztlichen Kollegen mit sinnlosen Vorsorgeuntersuchungen, zweifelhaften Anwendungen, überflüssigen Eingriffen und nutzlosen Operationen traktiert.
Der schöne Traum von Privilegien
Sie verschwenden so ihre besten Jahre in geschmacklosen Luxuswartezimmern, in sterilen Laboren und in beziehungsweise unter teuren Geräten. Bei manchen entwickeln sich nach einigen Jahren Symptome einer Arztabhängigkeit. Dann müssen sie immer häufiger zu »ihrem Arzt«, immer größere Geräte müssen in Anspruch genommen werden und immer freudiger werden absurd hohe Rechnungen beglichen. Der schöne Traum von Privilegien und bester Versorgung wird so zum Alptraum, aus dem es kein leichtes Entrinnen gibt.
Der Hausarzt hingegen sieht seine Aufgabe schon seit vielen Jahren darin, diese armen Seelen ganz vorsichtig zu entwöhnen. Zumindest in den seltenen Fällen, in denen sie sich zu ihm verirren. Denn in seiner Praxis sind diese Süchtigen selten. Hingegen muss der Hausarzt sehr aufpassen, um nicht schnell co-abhängig zu werden und dem Drängen und Bitten der Kranken um immer neue Termine und Untersuchungen nachzugeben. Die Patienten versuchen alle Tricks: Schmeichelei, Bestechung und Klagen.
Aber der Hausarzt muss hart bleiben. Nichts kann ihn umstimmen, droht ihm doch anderenfalls selbst große Gefahr. Denn manchmal, in den dunkelsten Stunden seiner beruflichen Existenz, zwischen hässlich-funktionaler Praxiseinrichtung, nicht funktionierenden Computern und tropfenden Kaffeemaschinen, unter genervten Kassenpatienten und gestressten Kollegen – in diesen Momenten sehnt er sich, wenn er ganz ehrlich ist, nach den bequemen Sesseln, nach den abgedunkelten und ruhigen Untersuchungsräumen einer Privatpraxis und nach tollen Geräten, die ihm anzeigen, dass alles in Ordnung ist.