Christopher Nolans »Oppenheimer« und der Schrecken der Apokalypse

Die Welt als Paradox

Im Film »Oppenheimer« bürdet Christopher Nolan seinem Helden die Zerrissenheit und Ambivalenz der ganzen Welt auf.

Regentropfen fallen in eine Pfütze. Während ihr Aufprall das Spritzwasser in die Höhe treibt, breiten sich kreisförmige Wellen aus. Überblendet mit einer Weltkarte lassen die Tropfen an unzählige Detonationen von Nuklearwaffen in einem Atomkrieg denken. Der wäre das Ende der Menschheit. Dieses Schreckensbild aus der Zeit des Kalten Kriegs ist auch heute wieder präsent – in einem Szenario der Unterwerfung vor dem Aggressor Russland, der, in die Enge getrieben, seine atomare Streitmacht einsetzen könnte, und in der Klimaangst. Die Apokalypse ist ein uraltes Motiv, der von Menschen verursachte Weltuntergang aber ist eine moderne Vorstellung – als die letzte Konsequenz der widersprüchlichen bürgerlichen Gesellschaft.

Aus diesem Thema hat der Hollywood-Starregisseur Christopher Nolan einen Film gemacht. Sein neuester Blockbuster »Oppenheimer« erzählt nicht weniger als die Vorgeschichte des Weltuntergangsszenarios anhand des berühmten Physikers J. Robert Oppenheimer. Im Wettrennen gegen die Nazis um die Atombombe tritt der Quantenphysiker jüdisch-deutscher Abstammung die Stelle als Leiter des Manhattan-Projekts an, das die jüngst entdeckte Kernspaltung militärisch nutzbar machen sollte. Nolan bürdet seinem Helden Oppenheimer (Cillian Murphy) dabei die Zerrissenheit und Ambivalenz der ganzen Welt auf: Oppenheimer muss den Widerspruch aushalten, dass seine revolutionären Ideen zur Kriegspraxis werden und die schlimmste Waffe, die die Menschheit je gesehen hat, Frieden bringen soll.

Die Geschichte Oppenheimers wird in Rückblenden erzählt. In der Sicherheitsanhörung vor der Atomenergie-Kommission, die ihn 1954 aus geheimen Regierungsprojekten ausschließen wird, verliest er ein Statement: Vom Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki desillusioniert, spricht er sich gegen den Bau der Wasserstoffbombe aus und setzt sich für die internationale Kontrolle der Kernenergie ein. Damit fällt er bei den Kalten Kriegern der McCarthy-Ära in Ungnade. Das Format der Verhandlung ist hier mit Bedacht gewählt, es ist der Modus, in dem die moderne Gesellschaft Konflikte anhand von Rechtsgrundsätzen austrägt.

Die Ambivalenz ist das eigentliche Motiv des Films; sie zeigt sich im politischen Antagonismus der Blockkonfrontation ebenso wie in der inneren Zerrissenheit Oppenheimers oder bei der Kernspaltung selber.

Die Ambivalenz ist das eigentliche Motiv des Films; sie zeigt sich im politischen Antagonismus der Blockkonfrontation ebenso wie in der inneren Zerrissenheit Oppenheimers oder bei der Kernspaltung selbst. Oppenheimer nennt es »a world of paradox, not everyone can accept«. Die moderne Gesellschaft hat eben »alle festen, eingerosteten Verhältnisse« aufgelöst (Marx) und lässt ihre Subjekte mit tendenziell allumfassender Unsicherheit zurück. Im Umgang damit gibt es scheinbar nur zwei Möglichkeiten: Nihilismus oder Glauben. Oppenheimer – und das ist ganz klassisch Nolan’sche Manier – soll ein Held sein, der über diesem Dualismus steht, der die Spaltung zusammenhält. »1. Fission, 2. Fusion«, heißt es im Vorspann, erst die Teilung, dann die Verschmelzung.

Oppenheimer ist der »American Prometheus«, wie auch der Titel des Buchs lautet, das als Vorlage des Films dient; er ist ein Halbgott, der den Menschen das Werkzeug zu ihrer Verwirklichung oder ihrer Zerstörung bringt und dafür leiden muss. Das Paradoxe entfacht eine Spiritualität, als der Student in Europa von Schlafstörungen und Visionen geplagt wird. Niels Bohr (Kenneth Branagh) ermutigt den jungen Physiker dazu, den Pfaden der Quantenmechanik in aller Konsequenz zu folgen. »Can you hear the music?« fragt Bohr in einer Szene, die Oppenheimer in einem Strudel aus Bildern der modernen Kunst, Elementarteilchen und Erkenntnismomenten fortreißt.

Zurück in den USA lehrt Oppenheimer in Berkeley jene Erkenntnisse, »no one wants to hear about«. Ab 1937 sympathisiert er mit der kommunistischen Partei, spendet für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und arbeitet an der gewerkschaftlichen Organisation des wissenschaftlichen Personals mit. Auf einem Abendempfang gibt er preis, dass er alle drei Bände des »Kapital« gelesen habe, und landet kurz darauf mit der Kommunistin Jean (Florence Pugh) im Bett. Oppenheimer, des Sanskrit mächtig, liest ihr aus der hinduistischen »Bhagavad Gita« vor: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.«

Die Prüfung des Helden liegt darin, dass er die Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Erlösung akzeptieren muss. Die romantische Beziehung zu Jean opfert er ebenso wie den Flirt mit dem Kommunismus, um seiner Berufung zu folgen, indem er gegen die Deutschen die Bombe baut. »We have no other choice«, entgegnet er einem zweifelnden Kollegen, während er sich als neuer Leiter des Manhattan-Projekts zusammen mit Lieutenant Leslie Groves (Matt Damon) an die Rekrutierung von Wissenschaftlern und den Bau der Wüstenkolonie Los Alamos in New Mexico macht.

Dort soll die Bombe namens Trinity (Dreifaltigkeit) gebaut werden, begleitet von politischen und wissenschaftlichen Querelen, von Spionagevorwürfen und der Frage, ob sich eine atomare Explosion kontrollieren ließe oder ob sie die gesamte Atmosphäre in Brand setzen würde. In einem ikonischen Dialog mit Albert Einstein (Tom Conti) sucht Oppenheimer dessen Rat, aber das gealterte Genie verweist die Verantwortung an ihn zurück. Die Trinität Oppenheimer (Sohn), Einstein (Vater) und Quantenphysik (heiliger Geist) wird aufgelöst: Als ein Windstoß Einstein den Hut vom Kopf weht, behält Oppenheimer seinen auf.

Ihm bleibt nur, das Vertrauen auf sich selbst zu richten, indem er die Position des Vaters übernimmt.
Schließlich gelingt der Test der Bombe drei Wochen vor dem Abwurf auf Japan. Der Siegestaumel und die Jubelrufe gehen in der Wahrnehmung Oppenheimers direkt über in eine Explosion und die Schmerzensschreie der Sterbenden. Wenn der Widerspruch zu groß wird und Oppenheimer das paradoxe Gefüge nicht mehr aushalten kann, schwankt die Kulisse und blitzt im gleißenden Licht auf. Ist Oppenheimer der Inbegriff des Todes, als der er immer wieder mit eingefallenem, leerem Gesicht und schwarzer Kluft mit Hut dargestellt wird? Oder der gefeierte Retter, dessen Bombe die US-amerikanischen Soldaten endlich aus dem Krieg heimholt?

Oppenheimer, des Sanskrit mächtig, liest der Kommunistin Jean aus der hinduistischen »Bhagavad Gita« vor: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.«

Immer wieder schwankt der Held und sucht nach Rechtfertigung für sein Tun: Die Bombe diene der Abschreckung, das neue Zeitalter sei durch internationale Kooperation kontrollierbar. Gegen Ende des Films spielt Nolan auf die Politik der Gegenwart an: Die Verhandlung darüber, ob Oppenheimer der Zugang zu Geheiminformationen künftig verwehrt werden soll, beruht auf der Intrige seines Rivalen in der Atomenergiebehörde, Lewis Strauss (Robert Downey Jr.). »We are not convicting«, fasst dieser zusammen, »we are just denying.« Die rechte Strategie, mit alternativen Fakten zu arbeiten, ist heutzutage allzu bekannt.

So versandet die Suche nach der Wahrheit über Oppenheimer in machtpolitischer Korruption. Ihm selbst bleibt nur die Einsicht, dass die Welt mit oder ohne Atomkrieg in Flammen gesetzt worden wäre. Zerstörung und Erlösung fallen wieder in eins, ein unauflösliches Paradox.

Auch wenn Nolan die Geschichte Oppenheimers angemessen nüchtern erzählt und die Handlung überwiegend in Zentralperspektive und klaren Bildkompositionen in den Vordergrund stellt – es gibt keine ausufernden Totalen mit Orgelorchestrierung wie in »Interstellar«, keinen Mindfuck mit der Wirklichkeit wie in »Inception« und keine berauschende Kamerafahrten wie in »Dunkirk« –, bleibt er sich ideologisch treu. Denn so tief der Film auch vordringen will in die Zerrissenheit der modernen Seele, begreifen kann er sie nicht.

Die Ambivalenz, die Nolan hier zum Äußersten treibt, sie gilt ihm als ein physikalisches Naturgesetz, dem sich der Mann der Wissenschaft schließlich fügen muss. Die aufklärerische Alternative zum Dualismus aus Nihilismus und Glaube wäre es, die Ambivalenz als ein gesellschaftliches Produkt zu verstehen, das, wie es in Marx’ »Thesen über Feuerbach« heißt, »nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären« ist. Hätte Nolans Oppenheimer doch nur ein bisschen mehr Marx gelesen.

Oppenheimer (USA 2023). Buch: Christopher Nolan, Kai Bird, Martin Sherwin. Regie: Christopher Nolan. Darsteller: Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., Matt Damon, Tom Conti, Florence Pugh. Bereits angelaufen