Die Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren in der Ukraine

Vater Bandera

Ein ukrainischer Sänger stimmte beim Christopher Street Day in München eine Hymne auf Stepan Bandera an. Die Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren und Holocaust-Tätern ist jedoch ein Phänomen, das sich bei weitem nicht auf die ukrainische Geschichts­politik beschränkt.

»Unser Vater ist Bandera«, sang der offen bisexuelle ukrainische Singer-Songwriter Mélovin auf Ukrainisch am 24. Juni von einer Bühne beim Christopher Street Day in München. »Unsere Mutter ist die Ukraine, wir werden für die Ukraine kämpfen«, ertönte die Antwort aus dem Publikum. Mélovin ver­öffentlichte eine kurze Videoaufnahme dieses Auftritts auf Youtube, Instagram und Tiktok und schrieb dazu: »Wer hat gesagt, dass Bandera homophob war?«

Über seine Einstellung zu Homosexualität hat sich Stepan Bandera, der einer der Führer der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) war und 1959 in München ermordet wurde, nicht geäußert. Dass die von der OUN formulierten »44 Regeln für einen ukrainischen Nationalisten« die elementare Bedeutung der Familie in der Mutterschaft und der Aufrechterhaltung der »Reinheit der Rasse und des Volkes« sahen, dass die OUN sich den italienischen Faschismus zum Vorbild nahm, dass ukrainische Rechtsextreme, die sich positiv auf die OUN beziehen, auch heutzutage die Zerstörung der traditionellen Institution Familie wittern und homophobe Propaganda betreiben – all das spricht eher dagegen, dass Bandera LGBT-Personen freundlich gesinnt gewesen wäre.

Die OUN, deren Abspaltungen noch bis in die fünfziger Jahre hinein tätig waren, habe stets auf Grundlage von biologistischem Determinismus argumentiert, schreibt die Historikerin Franziska Bruder. Die Propaganda der OUN habe stets die Bedeutung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen wie Familie, Stamm und Volk als Grundelemente der Nation betont und ein traditionelles Geschlechterverständnis gepflegt.

Seit 2013 ist der Anteil der Ukrainer:innen, der die Aktivitäten der historischen Nationalisten­organisation OUN-UPA negativ bewertet, stark zurückgegangen – von 42 Prozent auf acht Prozent.

Das Video von Mélovins Auftritt kursierte im Internet, es folgte eine Welle der Empörung in den sozialen Medien. Der Shitstorm ging vor allem von prorussischen Accounts aus. Doch dass die russische Propaganda sich derart auf Bandera versteift, um die Annahme zu beweisen, dass die Ukraine irgendwie ein faschistischer Staat sei, macht die Verehrung des Nationalistenführers nicht weniger problematisch.

Die Veranstalter:innen des Münchner CSD haben sich mittlerweile von dem Lied distanziert. Mélovin sei als queerer Sänger und Aktivist, der sich für die LGBTIQ-Community seines Landes einsetzt, eingeladen worden, schreiben sie auf ihrer Homepage. Die Liste der Songs sei vorab abgesprochen worden, das Bandera-Lied habe nicht auf der Liste gestanden, es wäre sonst auch nicht zugelassen worden.

Die OUN hatte sich 1940 gespalten, ein Teil folgte dem Offizier Andrij Melnyk (OUN-M), ein anderer Bandera (OUN-B). Die »Banderisten« stellten sich an die Spitze einer ukrainischen Partisanenbewegung, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die sowohl gegen die deutschen Besatzer als auch gegen die Sowjetunion kämpften. Die Bewertung dieser Gruppen ist seit der Unabhängigkeit in der Ukraine umstritten, umso mehr seit dem Maidan-Umsturz und dem Beginn der russischen militärischen Aggressionen gegen die Ukraine, 2014. Das Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) hatte 2013 in einer Erhebung Fragen zur Wahrnehmung und Beurteilung der Aktivitäten der OUN-UPA während des Zweiten Weltkriegs gestellt. Eine Umfrage mit derselben Frage hat das KIIS Ende 2022 wiederholt. Seit 2013 ist die Zahl derjenigen, die die Aktivitäten der OUN-UPA negativ bewerten, demnach stark zurückgegangen – von 42 Prozent auf acht Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, die die Aktivitäten der OUN-UPA positiv bewerten, von 22 auf 43 Prozent. Der Rest sah entweder sowohl positive als auch negative Seiten oder traute sich kein Urteil zu.

Selbst für zahlreiche Ukrainer:innen, die Banderas faschistische Ideen nicht teilen, ist er zu einem Nationalsymbol geworden, an dem festzuhalten die Ablehnung des russischen Herrschaftsanspruchs und der russischen Propa­ganda ausdrückt. Bandera wird oft unter Ausblendung seiner tatsächlichen politischen Ziele und der Verbrechen seiner Anhänger als Kämpfer für die na­tionale Unabhängigkeit glorifiziert.

Eine öffentliche Kontroverse über die OUN-UPA zu führen, erschwert in der Ukraine auch die geschichtspolitische Gesetzgebung: Das im April 2015 ver­abschiedete »Gesetz über die rechtliche Stellung und die ehrende Erinnerung an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert« legt fest, dass Bandera, die OUN und die UPA als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit gelten; die Legitimität des ukrainischen bewaffneten Unabhängigkeitskampfs im 20. Jahrhundert, also auch der OUN-UPA, in der Öffentlichkeit zu leugnen, wurde unter Strafe gestellt. Aus einer politischen ­Bewertung wurde so in der Ukraine eine justitiable Tatsache.

Erschwert wird die Debatte auch dadurch, dass die russische Propaganda die Geschichte instrumentalisiert. Am Donnerstag vergangener Woche beschoss die russische Armee die westukrainische Staat Lwiw mitten in der Nacht mit Marschflugkörpern. Ein großes Wohnhaus wurde zerstört, den ­ukrainischen Behörden zufolge hat es zehn Tote und 45 Verletzte gegeben. Wenige Stunden nach dem Angriff schrieb der offizielle Twitter-Account des russischen Außenministeriums: »Am 30. Juni haben wir der Opfer des Po­groms von Lwow gedacht, als Militante der Organisation Ukrainischer Nationalisten unter Anleitung der Nazi-Besatzungsbehörden über 4.000 Bewohner ermordeten. Es ist eine Tragödie, dass diese Mörder heute in der Ukraine glorifiziert werden.«

Unter internationalen Historiker:in­nen herrscht weitgehend Konsens über die Bewertung Banderas. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags schrieb 2022, dass es »im Allgemeinen unbestritten« sei, dass Angehörige der OUN und der UPA mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten und »einen Beitrag zur Vernichtung der Juden und der Ermordung von Polen und Roma geleistet haben«. Unter anderem die Historiker:innen Grzegorz Rossoliński-Liebe, John-Paul Himka und Franziska Bruder charakterisieren die OUN als faschistisch.

Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk (nicht verwandt mit dem gleichnamigen Führer der OUN-M), erntete vergangenes Jahr heftige Kritik, nachdem er in einem Gespräch mit Tilo Jung Bandera verteidigt und gesagt hatte, dieser sei »kein Massenmörder von Juden und Polen« gewesen, und wer diese Vorwürfe aufgreife, folge einem russischen Narrativ. Im Oktober 2022 wurde er von seinem Botschafterposten in Deutschland abberufen; im folgenden Monat wurde er zum stellvertretenden Außenminister ernannt.

Den Faschismus verharmlosende und Mittäterschaft ausblendende Tendenzen sind keineswegs ein neues oder spezifisch ukrainisches Phänomen. Die österreichische Mär, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, ließe sich zuvörderst anführen, oder die angebliche schwedische und schweize­rische Neutralität gegenüber dem NS-Regime, während weiter Handelsbeziehungen bestanden, aber auch die insbesondere nach 1990 in osteuropäischen Ländern verbreitete Ansicht, der Zweite Weltkrieg sei der Kampf zweiter Tota­litarismen gewesen, die irgendwie von außen kamen, als habe es keine Betei­ligung eigener Bürger gegeben.

Jahrzehntelang zog die Rechtsprechung in der Bundesrepublik am Holocaust Beteiligte nicht zur Verantwortung, wenn sie nicht selbst direkt getötet hatten; auch wegen Beihilfe zu Mord konnte man nur belangt werden, wenn nachgewiesen wurde, dass man konkrete Mordtaten begünstigt hatte.

Kollaboration ist nie eine Zusammenarbeit zwischen gleichen Partnern und oft lässt sich zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht eindeutig unterscheiden. Das Zusammenspiel von ­situativen Zwängen und individuellen Entscheidungen anzuerkennen, heißt nicht, Kollaboration zu entschuldigen oder schönzureden. Überhaupt war Kollaboration mit dem Nationalsozialismus nur möglich, weil die Deutschen durch den Überfall auf verschiedene Länder dafür sorgten, dass während des Zweiten Weltkriegs bis zu 230 Millionen Menschen in Europa mit den Deutschen als Feind im eigenen Land leben mussten.

Jahrzehntelang zog die Rechtsprechung in der Bundesrepublik am Holocaust Beteiligte nicht zur Verantwortung, wenn sie nicht selbst direkt getötet hatten; auch wegen Beihilfe zu Mord konnte man nur belangt werden, wenn nachgewiesen wurde, dass man konkrete Mordtaten begünstigt hatte. Das ­änderte sich erst durch das Münchner Urteil von 2011 gegen John Demjanjuk, einen früheren Aufseher im Vernichtungslager Sobibor. Allein die Anwesenheit des Lager­aufsehers Demjanjuk in Sobibor und seine Kenntnis von den Morden reichten aus, um ihn wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen. 66 Jahre lang waren deutsche NS-Täter in ähnlichen Fällen nicht verurteilt worden, es war also höchste Zeit – oder eigentlich schon viel zu spät – für ein solches Urteil. Demjanjuk war ein ehemaligen ­ukrainischer Trawniki-Mann, also ein Kriegsgefangener, der von der SS re­krutiert wurde, um als Handlanger für den Massenmord in den Vernichtungs­lagern zu dienen. Erst nach dem Urteil gegen ihn änderte auch die Rechtsprechung in den Prozessen gegen die wenigen noch lebenden deutschen Nazi-Täter.

2021 riefen die Außenminister der USA und Deutschlands, Antony Blinken und Heiko Maas (SPD), einen Dialog über Holocaustleugnung und -verfälschung ins Leben, an dem auch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden und das United States Holocaust Memorial Museum beteiligt waren. Verschiedene Untersuchungen wurden seitdem initiiert, um das Ausmaß des Problems beispielsweise im Internet zu untersuchen. Auch das »wachsende Problem der ›Rehabilitierung‹« von Personen, die am Holocaust beteiligt waren, war Thema des Dialogs. »Diese Rehabilitierung findet in vielen Ländern aus den unterschiedlichsten Gründen statt, die von offensichtlichen Versuchen, aus Schurken Helden zu machen, um aktuellen politischen Zwecken zu dienen, bis hin zu Mangel an historischem Bewusstsein reichen«, schreibt das Auswärtige Amt in einer Presse­mitteilung von Anfang Mai. Unabhängig vom Motiv könne das »Straflosigkeit für Kriegsverbrecher befördern, sowie dazu führen, dass Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung als normal betrachtet werden, und Spannungen zwischen Staaten verstärken«.

Weitere Projekte sind geplant. »Möglicherweise« soll es dabei auch um die »Identifizierung und Bewältigung von Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Gedenken an den Holocaust angesichts des fortgesetzten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine« gehen, heißt es weiter. Konkretere Aussagen dazu gibt es bislang nicht.