Vor 30 Jahren stimmte der Bundestag für die Abschaffung des Paragraphen 175 StGB

Regression und Fortschritt

Die Abschaffung des Paragrafen 175 StGB vor 30 Jahren und damit die endgültige Entkriminalisierung der Homosexualität war eher eine Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik als eines unaufhaltsamen Liberalisierungstrends in der deutschen Gesellschaft insgesamt.

Die Geschichte der Abschaffung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, liest sich in heutigen offiziellen Darstellungen nicht selten, als wäre damals die alte Bundesrepublik zur Besinnung gekommen. In einem historischen Abriss der Bundeszentrale für politische Bildung über die Situation von Schwulen und Lesben in Deutschland wird die vollständige Entkriminalisierung schwuler Sexualität im Jahr 1994 als ein erster Schritt auf dem Weg zur Ehe für alle dargestellt. Der Lesben- und Schwulen­verband in Deutschland sieht in der Abschaffung ein Indiz dafür, dass die Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Liebe in Deutschland damals zugenommen habe.

Dass die zeit seines Bestehens immer wieder geforderte Abschaffung des schwulenfeindlichen Paragraphen ausgerechnet in der ersten Hälfte der neunziger Jahre stattfand, mag zunächst verwundern. Denn das gesellschaftliche Klima in diesem Sommer 1994 war keinesfalls so liberal, wie manche heutige Texte glauben machen. Durch das neue Deutschland ging kein Auftakt eines fröhlichen Emanzipationsrucks. Im Gegenteil: Täglich griffen irgendwo in der nunmehr um die vormalige DDR erweiterten Bundesrepublik Neonazis Geflüchtete, Menschen mit ­Migrationshintergrund, Homosexuelle oder Obdachlose an.

Das gesellschaftliche Klima im Sommer 1994 war keinesfalls so liberal, wie manche heutige Texte glauben machen. Durch das neue Deutschland ging kein fröhlicher Emanzipationsruck.

Im März des Jahres wurde in der Stuttgarter Geißstraße ein überwiegend von Migranten bewohntes Haus angezündet, sieben Menschen starben. In Bonn regierte eine Koalition aus CDU, CSU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Aids hatte seinen Schrecken noch nicht verloren und Deportationsphantasien zum Schutz der Mehrheitsbevölkerung vor den lustgetriebenen Schwulen erfreuten sich auch außerhalb bayerischer Bierzelte großer Beliebtheit in der Bevölkerung.

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