Über das alltägliche Leben während des Kriegs in Moskau

Der Krieg liegt im Detail

Im Alltag Moskaus ist der russische Krieg nicht präsent. Die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen das Land konnten bisher erfolgreich abgeschwächt werden.
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Bewegt man sich dieser Tage durch Moskau, muss man schon ­genau hinsehen, um zu bemerken, dass sich das Land seit bald ­einem Jahr in einem großen Krieg befindet. Im Gegensatz zum ­Kiewer Stadtbild ist im dichten Moskauer Straßenverkehr kaum Militär unterwegs, erst recht liegen keine Panzersperren am ­Straßenrand bereit, an strategischen Kreuzungen sind keine Checkpoints errichtet. Die Bewohner der russischen Hauptstadt gehen ­ihren gewöhnlichen Routinen nach: Arbeiten, Shoppen, Ausgehen und Feiern, vom Töten und Sterben an der Front scheinbar un­beirrt.

Das anscheinend ungestörte Alltagsleben kann aus Sicht der Regierung als Erfolg gewertet werden. Als die mit der Ukraine ­verbündeten führenden Wirtschaftsnationen im vergangenen Frühjahr Russland als Reaktion auf den Einmarsch in die Ukraine mit beispiellosen Sanktionen überzogen, erwarteten manche vielleicht einen unmittelbaren Kollaps der russischen Wirtschaft. Der Rubel befand sich kurz nach Kriegsbeginn einige Tage lang im freien Fall. Unter anderem dank des weiterhin ertragreichen Rohstoffexports, des wichtigsten Standbeins der russischen Ökonomie, und des als kompetent geltenden Krisenmanagements von Zentralbankchefin Elwira Nabiullina hat sich die Lage aber halbwegs stabilisiert.

Im Supermarkt kann man bei genauem Hinsehen zwar bemerken, dass nicht alles beim Alten ist: Die früher dunkelgrünen Saftpakete der Firma Dobryj beispielsweise sind nun größtenteils minimalistisch weiß und mit dem Hinweis versehen, dass man vorübergehend Farbe sparen müsse. Der Import der für die Produktion bunter Lebensmittelverpackungen nötigen Farbstoffe ist durch die Sanktionen eingeschränkt. Von dramatischen Engpässen oder leeren Regalen kann in Moskau allerdings keine Rede sein.

Ähnliches gilt für internationale Lebensmittel- und Konsumgütermarken wie McDonald’s. Die berühmteste aller Fast-Food-­Ketten hat das Land zwar verlassen, die Restaurants werden inzwischen unter russischem Management und Namen (»Einfach ­Lecker«) betrieben, für Konsumenten ist der Besuch allerdings nicht wesentlich anders, Burger bekommt man nach wie vor. Auf dem Getränkemarkt bietet sich ein ähnliches Bild: Wo einst Cola, Fanta und Sprite angeboten wurden, sind nun Plastikflaschen in iden­tischer Aufmachung und Farbe, aber unter dem Label der Saftfirma Dobryj auf der Speisekarte abgebildet. Für diejenigen, die unbedingt das Original genießen wollen, ist an jeder Ecke aus Nachbarländern importierte Coca-Cola, mit beispielsweise usbekischer ­Beschriftung, erhältlich. Außerdem machen andere namhafte Firmen, wie KFC und Burger King, weiter wie bisher. Genauso sieht es in anderen Bereichen aus: H & M mag abgezogen sein, New Balance ist geblieben.

Aber auch in anderer, für die russische Führung eher problematischer Hinsicht ist der Krieg in Moskau anscheinend kaum ­angekommen. Im Gegensatz zum ukrainischen Stadtbild, wo nicht nur von offiziellen Stellen, sondern auch seitens der Bevölkerung, etwa in Form von Ansteckern an Rucksäcken oder Aufklebern an Autoscheiben, überall verbissener Durchhaltewillen kommuniziert wird, ist in Moskau kaum etwas dieser Art zu sehen. Das Z-Symbol, welches Unterstützung für Wladimir Putins Kriegskurs ­bedeutet, ist zwar gelegentlich auf Kleidung oder der Rückseite von Autos zu sehen. Solch öffentlich zur Schau gestellter Enthusiasmus ist aber so selten, dass man ihm im Alltag, trotz des ständigen Getümmels im Moskauer Zentrum, auch mal mehrere Tage lang nicht begegnet. Selbst Autos, an deren Rückspiegeln das schwarz-orangene Sankt-Georgs-Band baumelt, das den russischen Nationalismus der Krim-Annektion 2014 symbolisierte, sind nicht automatisch auch mit der neuen Z-Symbolik verziert.

Gleichzeitig trägt man auch von offizieller Seite, was die visuelle Propaganda angeht, nicht allzu dick auf. Transparente mit kämpfe­rischen Schlagworten (»Für den Präsidenten, den Sieg und die Zukunft!«) sind im Grunde nur an den Fassaden einiger Behörden, zum Beispiel dem Innenministerium, zu finden. Die etwas weiter verbreiteten Reklametafeln zu Ehren bestimmter, mit dem Orden »Held Russlands« ausgezeichneter Soldaten, nennen nur den Namen des Abgebildeten, nicht aber den Zusammenhang, in dem dieser sich heldenhaft hervorgetan habe.

In gewisser Weise bleibt sich das System damit treu. Allen totalitären Tendenzen zum Trotz wird, soweit möglich, weiterhin versucht, der Bevölkerung, besonders in der Hauptstadt, die Möglichkeit zu lassen, die Politik zu ignorieren. Wer vom Krieg nichts wissen will, soll nicht unnötig daran erinnert werden. Das von Kriegspropaganda triefende Staatsfernsehen muss sich schließlich ­niemand ansehen. Das U-Bahnfernsehen hingegen, dem sich die Pendler nicht entziehen können, suggeriert eine heile Welt und zeigt nur seichte Wohlfühlnachrichten, selbst aus der verfeindeten EU (ein innovatives Fahrradparkhaus in Belgien zum Beispiel).

Wie lange diese Strategie aufrecht erhalten werden kann, wird sich zeigen. Sollte der vom Westen beschlossene sogenannte ­Ölpreisdeckel den intendierten Effekt erzielen und den russischen Staatshaushalt beschädigen oder sollte die russische Armee in der Ukraine Rückschläge erleiden, die eine breitere militärische Mobilisierung nötig machen, könnte auch das bisher weitgehend verschont gebliebene Moskau ein böses Erwachen erleben. Politik und Krieg interessieren sich bekanntermaßen früher oder später auch für diejenigen, die sich nicht für sie interessieren.