Wie es nach der Stichwahl zur französischen Nationalversammlung und dem Sieg des linken Bündnisses NFP weitergeht

Nochmal davongekommen

Die Stichwahlen zur französischen Nationalversammlung hat unerwartet die linke Wahlallianz gewonnen, die extreme Rechte wurde nur drittstärkste Kraft.

Paris. Die Überraschung war groß: Waren aus dem ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahl am 30. Juni noch die Rechtsextremen als stärkste und die linke Wahlallianz Nouveau Front populaire (NFP) als zweitstärkste Kraft hervorgegangen, so änderten sich die Verhältnisse bei den Stichwahlen am Sonntag.

Der NFP erhielt 182 von insgesamt 577 Parlamentssitzen und landete auf dem ersten Platz vor dem Parteienbündnis Ensemble mit 163 Sitzen, das Präsident Emmanuel Macron unterstützt hatte. Die Rechtsextremen belegten nur noch den dritten Rang mit 125 Mandaten für den Rassemblement national (RN) und weiteren 17 für direkt mit dem RN verbündete Konservative von dem um Éric Ciotti versammelten Flügel der gespaltenen Partei Les Républicains (LR). Hinzu kommen Mandate für kleinere politische Gruppierungen wie den nicht mit den Rechtsextremen verbündeten Teil von LR.

Möglich gemacht hatte diese unerwartete Umkehr des Kräfteverhältnisses zuungunsten der extremen Rechten zunächst ein weitgehend spontaner antifaschistischer Reflex in Teilen der Bevölkerung, insbesondere bei den Jüngeren. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 67 Prozent so hoch wie seit 1997 nicht mehr. Begünstigt wurde diese Abwehrreaktion gegen die rechtsextreme Bedrohung durch das Verhalten vieler nicht rechtsextremer Kandidatinnen und Kandidaten, die nach der ersten Runde als Drittplatzierte aufgrund ihres Stimmenanteils zwar in der Stichwahl hätten antreten können, sich jedoch zurückzogen, um Besserplatzierten den Sieg über rechtsextreme Kandidatinnen und Kandidaten zu erleichtern.

Am Wahlabend forderte der Gründer der linkspopulistischen Partei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI), Jean-Luc Mélenchon, einen Premierminister oder eine Premierministerin aus den Reihen des NFP zu ernennen.

Trotz großer, insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischer Differenzen zwischen dem linken und dem liberalen Lager funktionierte diese Taktik. Über 220 Kandidaturen wurden vor der Stichwahl zurückgezogen. Statt in 300 möglichen Fällen fanden Stichwahlrunden mit drei Kandidaten nur in 89 Wahlkreisen statt, in den übrigen wurde die entscheidende Runde nur noch unter zwei Bewerbern ausgetragen. Statt relativer Mehrheiten wurden dadurch fast überall absolute erforderlich. Diese Hürde konnte die extreme Rechte vielerorts nicht nehmen; landesweit erreichte sie einen Stimmenanteil von 37 Prozent.

Als stärkste Kraft erhält das politisch gespaltene und nur gegen den Rassemblement national einige linke Bündnis nun ein knappes Drittel der Parlamentssitze. Am Wahlabend forderte der Gründer der linkspopulistischen Partei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI), Jean-Luc Mélenchon, einen Premierminister oder eine Premierministerin aus den Reihen des NFP zu ernennen. Dieser werde »nur sein Programm, aber das ganze Programm« umsetzen. Das gemeinsame Wahlprogramm war am 14. Juni vorgestellt worden und beschränkt sich auf konsensfähige Kernpunkte.

Dies löst das Problem der fehlenden Parlamentsmehrheit nicht. Mélenchon und Manuel Bompard, der »Koordinator« von LFI – der faktische Parteivorsitzende, im Schatten Mélenchons allerdings –, stellten in Aussicht, es ließe sich zur Not in vielen Fragen auf dem Wege von Verordnungen der Exekutive regieren.

Semiautoritäre Verfassung der Fünften Republik von 1958

Der sozialdemokratische Parti socialiste (PS), der zuletzt von 2012 bis 2017 regierte, erhielt anders als 2022 nunmehr mit 59 wieder fast so viele Parlamentssitze wie die Partei LFI (74), die vor zwei Jahren noch wesentlich stärker war. Der PS-Vorsitzende Olivier Faure schlug etwas anderes vor als Mélenchon: Die Regierungen unter Präsident Macron hätten ja in den vergangenen Jahren oft unter Rückgriff auf den Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung regiert. Dieser erlaubt es einer Regierung, die Vertrauensfrage zu stellen und danach eine Gesetzesvorlage ohne Abstimmung als verabschiedet zu betrachten, sofern die Nationalversammlung die Regierung nicht durch ein Misstrauensvotum stürzt.

Die linken Parteien hatte diese Art des Regierens, welche in der semiautoritären Verfassung der Fünften Republik von 1958 vorgesehen ist, in den vergangenen Jahren regelmäßig als undemokratisch gebrandmarkt. Es wäre also politisch heikel, sich nun selbst dieses Mittels zu bedienen. Faure schlägt allerdings vor, Artikel 49 Absatz 3 just in den Fällen einzusetzen, in denen Macron und sein jeweiliges Kabinett umstrittene und unsoziale Reformen unter Rückgriff auf diesen Artikel durchgesetzt haben. Man gehe dann gewissermaßen nur denselben Weg zurück.

Eine zentrale Wahlkampfforderung des linken Bündnisses war eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (die amtliche Abkürzung lautet Smic) von derzeit 1 398 Euro netto monatlich – von denen man jedenfalls in urbanen Zentren kaum leben kann – um 14 Prozent auf 1 600 Euro netto. Das könnte auf dem Verordnungsweg durchgesetzt werden. Die jährliche Anpassung des Smic ist gesetzlich an die Verbraucherpreis- und die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt, die Höhe kann die Regierung aber auch per Exekutivverordnung festlegen.

Den Gewerkschaften den Rücken stärken

Allerdings hätte eine solche Erhöhung des Smic ohne begleitende Beschlüsse unerwünschte Nebeneffekte. Zunächst würde plötzlich eine viel höhere Zahl von abhängig Beschäftigten auf dem Mindestlohnniveau landen, weil viele der unteren Lohngruppen in den Tarifverträgen derzeit weniger erhalten als 1.600 Euro netto. Bereits der Inflationsausgleich beim Mindestlohn im vorigen Jahr hatte sich so ausgewirkt, der Anteil der Smic-Bezieher stieg von 14 auf 17 Prozent, da viele Einkommen der Niedriglohngruppen nicht mit der Inflation Schritt hielten. Die vom NFP geforderte Anhebung würde den Anteil der Mindestlohnverdiener auf rund ein Viertel aller Beschäftigten erhöhen.

Diesen könnte dann ein Ausbleiben jeglicher Lohnentwicklung über Jahre hinweg drohen, sofern nicht auch die Löhne in Tarifverträgen angehoben werden. Darauf haben Gesetzgeber und Regierung keinen direkten Einfluss. Allerdings könnten sie den Gewerkschaften den Rücken stärken, zum Beispiel indem Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden, die Zugeständnisse verweigern. Dies dürfte aber gesetzgeberische Eingriffe und damit eine parlamentarische Mehrheit erfordern.

Eine Änderung plant der NFP auch bei den Überstunden. Diese hatte die Regierung Macrons von Steuern befreit, um das Ableisten von Überstunden im Arbeitsleben zu fördern. Eine solche Steuerbefreiung hatte es bereits in der Amtszeit von Macrons Vorgänger Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012) gegeben. Ähnlich wie der am Sonntag erneut zum Abgeordneten gewählte François Hollande (PS), der von 2012 bis 2017 Präsident war, plant auch der NFP, diese Steuerbefreiung abzuschaffen.

Streit um Überstunden

Auch hier könnte es jedoch zu unerwünschten Nebeneffekten kommen. Es erscheint zweifellos richtig, Lohnerhöhungen – ohne Verlängerung der individuellen oder kollektiven Arbeitszeit – dem Ableisten von Überstunden vorzuziehen. Allerdings ist absehbar, dass, vor allem falls die Lohnentwicklung stagnieren sollte, viele abhängig Beschäftigte empfänglich würden für eine Propaganda aus dem Lager Macrons oder der Rechten, die ihnen nahelegt, dass ihnen mit der Besteuerung von Überstunden eine Möglichkeit zur individuellen Einkommenssteigerung geraubt werde.

Premierminister Gabriel Attal hatte derlei bereits während des jüngsten Wahlkampfs verbreitet und Lohnabhängige davor gewarnt, sie verlören eine Einkommensquelle. Auch dürfte eine Aufhebung der Steuerbefreiung von Überstunden eine gesetzgeberische Änderung und damit eine Mehrheit in der Nationalversammlung erfordern.

Eine Einigung könnte schwierig werden, da Mélenchon auch im linken Bündnis umstritten ist – und jenseits von LFI noch viel mehr; als Kompromisskandidatin des NFP käme die Grüne Marine Tondelier in Frage.

Anders verhält es sich wohl beim am 26. Januar in Kraft getretenen verschärften Ausländergesetz. Um dieses abzuändern, bedürfe es eines gesetzgeberischen Eingriffs, betonte zwar der Staatsrechtler Dominique Rousseau am Dienstag in einem Fernsehinterview – um eine Änderung unter derzeitigen Bedingungen für quasi unmöglich zu erklären. Allerdings benötigt der verabschiedete Gesetzestext, um praktische Anwendung zu finden, eine Reihe von Ausführungsdekreten. Diese sind für den 1. September dieses Jahres angekündigt worden. Es würde im Falle eines Regierungswechsels genügen, diese Dekrete zu stornieren, um die Anwendung des Gesetzes zu blockieren.

Attals Rücktrittsgesuch, das dieser nach der Wahl den politischen Gepflogenheiten folgend eingereicht hatte, hat Macron allerdings abgelehnt, die Regierung bleibt vorläufig im Amt. Es ist üblich, dass der Präsident einen Premierminister aus den Reihen der größten Parlamentsfraktion ernennt, der NFP will bis Ende der Woche einen Kandidaten oder eine Kandidatin benennen. Eine Einigung könnte schwierig werden, da Mélenchon auch im linken Bündnis umstritten ist – und jenseits von LFI noch viel mehr; als Kompromisskandidatin des NFP käme die Grüne Marine Tondelier in Frage.

Macron könnte es aber auch mit einer »Expertenregierung« versuchen, einem Kabinett nicht parteigebundener Ministerinnen und Minister. Eine solche Regierung stünde vor ähnlichen Problemen bei der Durchsetzung ihrer Politik wie ein vom NFP geführtes Kabinett.