Die Zahl antiziganistischer Vorfälle nimmt stark zu

Die Spitze des Eisbergs

Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus meldet eine Zunahme antiziganistischer Vorfälle um knapp 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Ein Schüler, Angehöriger der Sinti und Roma, sei in der Schule verprügelt und als »dreckiger Zigeuner« beschimpft worden. »Dich wollen wir hier nicht«, hätten die Angreifer gerufen.

Das ist eines von vielen Beispielen antiziganistischer Diskriminierung und Attacken, wie sie die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) aufnimmt. Ein anderes Mal hätten An­woh­ner:in­nen einer Siedlung, in der viele Sinti leben, mehrfach das Fehlen von Spielplätzen und weiteren Jugendangeboten beklagt.

Die Stadt allerdings ignoriere das fortwährend. Wieder ein anderes Mal habe eine aus Rumänien nach Deutschland migrierte Familie erfolglos Kindergeld beantragt. Man halte sich lediglich hierzulande auf, um Sozialleistungen zu beziehen, habe die zuständige Familienkasse die Ablehnung begründet. Der Vater der Familie sei in einem Arbeitsverhältnis, schreibt MIA hierzu.

Viele Sinti und Roma begegnen aufgrund negativer Erfahrungen mit staatlichen Behörden auch zivil­gesellschaftlichen Institutionen mit Skepsis.

Mitte Juni veröffentlichte die Meldestelle ihren Jahresbericht zu antiziganistischen Vorfällen. Er ist der zweite seiner Art und verzeichnet für das Jahr 2023 insgesamt 1.233 Vorfälle. Im Vorjahr waren es 621. Dem Bericht zufolge gab es einen deutlich überproportionalen Anstieg extremer Gewalt, also schwerer physischer Angriffe. Antiziganistische Äußerungen werden demnach weiterhin wie selbstverständlich geäußert und Diskriminierung seitens staatlicher Organe mache mindestens ein Viertel aller Vorfälle aus.

Allerdings sind die Ergebnisse des Berichts nur bedingt repräsentativ. Dargestellt werde höchstens »die Spitze des Eisbergs«, so Mustafa Jakupov, der stellvertretende Leiter von MIA, im Gespräch mit der Jungle World. Die Zunahme dokumentierter Attacken um beinahe 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr sei in erster Linie auf den gestiegenen Bekanntheitsgrad der Meldestelle und die Etablierung von zwei neuen regionalen Meldestellen in Bayern und Hessen zurückzuführen.

Zunahme rechtsextremer Ansichten in der Gesellschaft

Zudem zeige sich die gegenwärtige Zunahme rechtsextremer Ansichten in der Gesellschaft. Doch es werde »wohl noch Jahre dauern, bis MIA Zahlen vorlegen wird, die nahezu das gesamte Ausmaß des Antiziganismus in Deutschland abbilden«, so Jakupov. »Um dieses für die gesamte Gesellschaft wichtige Ziel zu erreichen, ist eine dauerhafte Unterstützung und Finanzierung von MIA durch die Bundesregierung notwendig.«

MIA hat erst im Jahr 2022, zunächst unter Federführung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, die Arbeit aufgenommen. Ziel der Meldestelle ist es neben der Vernetzung, die Beteiligungsmöglichkeiten der Zielgruppe zu fördern und Antiziganismus zu dokumentieren, zu benennen und schließlich zu bekämpfen. Dass von Antiziganismus betroffene Personen diese Plattform immer mehr nutzen, wertet der Jahresbericht als Erfolg. Denn viele Sinti und Roma begegnen aufgrund negativer Erfahrungen mit staatlichen Behörden auch zivilgesellschaftlichen Institutionen mit Skepsis.

Der vorliegende Jahresbericht legt folglich unter anderem einen Schwerpunkt auf Antiziganismus in der Polizei. Der Politikwissenschaftler Markus End schreibt darin, dass es eine »größere Verdachtsneigung gegenüber Minderheitsangehörigen« gebe, die zu »vermehrten Kontrollen, dem Einsatz von mehr Polizist:innen und einer niedrigeren Schwelle zur Gewaltanwendung« führe. Die Betroffenen litten sowohl unter einer entsprechend gestalteten polizeilichen Alltagspraxis als auch unter überkommenen Ressentiments in den Polizeibehörden.

Konstrukt der sogenannten Clankriminalität

Ein weiterer Schwerpunkt ist Antiziganismus in den Medien, wobei insbesondere zwei Motive wiederholt auftauchen. Erstens trügen diese wesentlich dazu bei, das Konstrukt der sogenannten Clankriminalität zu verbreiten – ein soziales Stigma, das als »Fortsetzung der polizeilichen Sondererfassung« von Sinti und Roma im Nationalsozialismus ­kritisiert wird.

Zweitens würden zugewanderte Roma in der Berichterstattung über Flucht und Migration häufig als Bedrohung des Wohlfahrtsstaats dargestellt, während die prekären Lebensumstände und die antiziganistische Gewalt in ihren Herkunftsländern nicht auftauchten. Stattdessen würden Roma mit entsprechenden Bildern – etwa von Sperrmüll – als Störfaktor dargestellt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsident:innen der Länder beschlossen nun, eine stän­dige Bund-Länder-Kommission gegen Antiziganismus einzurichten. Die ist künftig unter anderem zuständig für den Austausch zwischen Bund und Ländern und soll die Gesellschaft für Antiziganismus sensibilisieren sowie Empfehlungen etwa zur Prävention und Erinnerungsarbeit abgeben.

MIA begrüßt dies als »wichtigen Schritt, um diese spezifische Form des Rassismus wirkungsvoll zu bekämpfen«, so Geschäftsführer Guillermo Ruiz Torres zur Jungle World. Viele Bereiche, in ­denen Veränderungen nötig seien, wie das Bildungswesen oder die Landes­polizeien, fielen in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Auch weitere Or­ganisationen der Sinti- und Roma-Community zeigten sich erfreut über die Beschlüsse.