Wenn jeden Tag Mad Friday ist
Keine ruhige Adventszeit für Andy Jones (Stephen Graham): Der Chefkoch eines Sternerestaurants im hippen Osten Londons streitet sich kurz vor Schichtbeginn am Telefon mit seiner Ex-Frau. Seit Tagen hat der Gestresste in seinem Restaurant »Jones and Sons« übernachtet und sogar einen wichtigen Schwimmwettbewerb seines Sohns verpasst. Ausgerechnet an diesem Tag muss er sich auch noch mit einem peniblen Gesundheitsinspektor (Thomas Coombes) herumplagen. Und das alles ist erst der Beginn des »Mad Friday«, dem aufreibendsten Tag des Jahres in der britischen Gastronomie, wenn die Berufstätigen aus den Büros in die Pubs und Restaurants strömen, um die kommenden Weihnachtsfeiertage einzuläuten.
Wegen einer Lieferung verdorbener Fische muss das Menü kurzfristig umgestellt werden, Mitarbeiter kommen zu spät und zu allem Überfluss hat sich auch noch sein vormaliger Chef (Jason Flemyng) im Lokal eingefunden. Das Ekelpaket meckert nicht nur bei jeder Gelegenheit, sondern will mit Andy auch finanzielle Schuldigkeiten aus alten Tagen klären.
Nicht umsonst gibt es in kaum einem anderen Gewerbe so viele Kündigungen. Wer »Boiling Point« gesehen hat, versteht, warum.
Natürlich geht in dem Küchendrama, das der Regisseur Philip Barantini auf Grundlage seiner eigenen Erfahrungen als Koch in einem Restaurant der gehobenen Küche geschrieben und inszeniert hat (gemeinsam mit James Cummings), alles schief, was schiefgehen kann. Küche und Servicepersonal kommen mit den Bestellungen nicht hinterher, Streit wird in der chronisch unterbesetzten Küche grundsätzlich im Brüllton ausgetragen und die Gäste sind kulinarische Barbaren, die im Sternerestaurant nach Steak mit Pommes verlangen und die Kellnerinnen wie Dreck behandeln. Der Druck auf Koch und Team steigt immer weiter, bis alles im letzten Drittel des Films kulminiert.
Im englischen Original wird diese Klimax bereits im Titel genannt: Als »Boiling Point« (Siedepunkt) kam der von der Kritik hochgelobte Film in Großbritannien im Januar 2022 in die Kinos. Ein Filmstart in Deutschland war zunächst angekündigt worden, blieb dann aber während der Pandemie aus. Der Film ist jetzt unter dem Titel »Yes, Chef« mit zweieinhalb Jahren Verspätung und ohne eine größere Werbekampagne in einer deutschen Synchronfassung auf DVD erschienen und kann bei Apple TV gestreamt werden. Eigentlich hätte dieser wichtige Film etwas mehr Beachtung verdient.
Ständig brutzelt, piept und scheppert es
Barantinis Kameramann Matthew Lewis fasst das Geschehen im Restaurant in einem einzigen 90minütigen Take ein. Seine Kamera wechselt fließend vom Chaos in der Küche zum gediegenen Ambiente im Speisesaal und zeigt die Zubereitung der exquisiten Speisen in Nahaufnahme. Filme als eine einzige große Szene zu präsentieren, ist mit Alejandro Iñárritus »Birdman« (2014) und Sam Mendes’ »1917« (2019) längst in Hollywood angekommen.
Im Gegensatz zu diesen Filmen dient diese Technik hier aber nicht dazu, das Können der Kameraleute unter Beweis zu stellen, sondern unterstützt die klaustrophobische Atmosphäre, die sich im Zusammenspiel mit den naturalistisch gehaltenen Dialogen authentisch anfühlt. Die Kamera bleibt stets nah am Geschehen, folgt mal der einen, dann wieder der anderen Person und transportiert so die aufgeladene Stimmung im trubeligen Restaurantbetrieb in dokumentarisch wirkenden Bildern. Ständig brutzelt, piept und scheppert es, Stimmengewirr bestimmt die Klangkulisse.
Das Stakkato der großen und kleinen Katastrophen wird dem Publikum in Echtzeit präsentiert, Zeit zum Durchatmen bleibt nicht. Ohne jede Gewalt wird der Film spannender als mancher Thriller oder Horrorfilm. Es gelingt ihm so auch zu verdecken, dass die Geschichte recht dünn ist. Besondere Stärke zeigt die schnittlose Technik, wenn sie die Reaktionen der handelnden Personen auf die Ereignisse unmittelbar darstellt – zum Beispiel wenn die Kamera der überforderten Managerin Beth (Alice Feetham) nach einer besonders heftigen Kollegenschelte auf die Toilette folgt, wo sie weinend zusammenbricht, oder wenn sich der Kellner Dean (Gary Lamont) nach einer Interaktion mit einer Gruppe übergriffiger Touristinnen vor Ekel schüttelt.
Jeder kämpft für sich selbst
Als Glücksfall erweist sich die Besetzung der Hauptrolle mit einem Schauspieler, der sich vor allem mit komödiantischen Rollen profiliert hat. Stephen Graham in der Rolle des Andy beherrscht das Timing perfekt und trägt mit seiner Darstellung des Nervenbündels den Film. Dabei macht er es sich nicht so einfach, die Figur als Parodie auf cholerische Fernsehköche wie Gordon Ramsay anzulegen, sondern verleiht ihr dramaturgische Tiefe. In einem Moment vor Wut schnaubend, im nächsten wieder unterwürfig lallend, treibt er den Film voran. Das restliche Ensemble verblasst hinter dieser Performance, zumal die Figuren eher funktional angelegt sind. Vor allem Vinette Robinson als abgeklärte Souschefin Carly und Ray Panthaki als aufmüpfiger Commis de Cuisine Freeman schaffen es trotzdem, Akzente zu setzen.
In Zeiten, in denen Bestellungen bei Lieferdiensten auf die Minute genau verfolgt werden können und Essen als Produkt wahrgenommen wird, gelingt es dem Film, die Arbeit, die hinter den Mahlzeiten steht, zu zeigen und die menschliche Seite der Produktion darzustellen. Das kumpelhafte Auftreten der Köche täuscht nicht darüber hinweg, dass jeder für sich selbst kämpft. Jede Krise braucht einen Schuldigen und die Protagonisten nutzen jede Chance, um sich gegenseitig anzuschwärzen und nach unten zu treten. Schwäche darf nicht gezeigt werden; nur wenn die Kamera mit den Protagonisten in deren Rückzugsräumen allein ist, fließen Tränen.
Momente der Solidarität blitzen nur manchmal auf, beispielsweise wenn die Dessertköchin Emily (Hannah Walters) ihren Lehrling Jamie (Stephen McMillan) tröstet, der den Druck und das Mobbing seiner Kollegen nur durch Selbstverletzung ertragen kann. Die Gäste werden durchgehend als arrogante Schnösel gezeigt, die das Personal nur als Diener betrachten und es erbarmungslos herumkommandieren. Von den Malochern in der Küche trennt sie der Klassenunterschied. Stellenweise knüpft das Porträt des modernen Dienstleistungsproletariats so an die Pauperismusliteratur des 19. Jahrhunderts an, die sich mit der Lage der industriellen Arbeiterschaft beschäftigte.
»Yes, Chef« zeigt ungeschminkt die Auswirkungen des Arbeitsumfelds auf das Personal: Alle sind übermüdet und drohen jeden Moment unter der Last zusammenzubrechen.
»Yes, Chef« zeigt ungeschminkt die Auswirkungen dieses Arbeitsumfelds auf das Personal: Für seine Familie hat Chefkoch Andy keine Zeit, seinen Sohn muss er mehrmals am Telefon abwürgen. Körperlich ist er ein Wrack. Auch die Mitglieder seines Teams sind übermüdet und drohen jeden Moment unter der Last zusammenzubrechen. Ihre Gefühle können sie nur noch in aggressiven Tiraden artikulieren. Alkohol und andere Drogen sind omnipräsent. Barantini bemüht sich, auch Rassismus und Sexismus in der Branche zu zeigen, deutet letztlich aber nur an, dass schwarze Kellnerinnen anders behandelt werden als ihre weiße Kolleginnen und dass die Leistung weiblicher Köchinnen kaum geschätzt wird.
Wie die Geschichte weitergeht, zeigt eine vom britischen Sender BBC One produzierte vierteilige Serie, bei der abermals Philip Barantini, diesmal gemeinsam mit Mounia Akl, Regie geführt hat. Das Spin-off, das wie der Film im englischen Original den Titel »Boiling Point« trägt, lässt sich auf Netflix streamen. Erzählt wird das Schicksal der Figuren (in der Serie von denselben Darstellern wie im Film verkörpert) sechs Monate nach Ende der Filmhandlung.
Andy musste seine Arbeit als Restaurantchef aufgeben. Nun wagt Carly als Chefköchin samt der alten Küchencrew mit dem Restaurant »North Point« auf eigene Faust den Neuanfang. Stärker noch als der Film beschäftigt sich die Serie mit dem Privatleben und den psychischen Krisen der Figuren vor dem Hintergrund des enormen Drucks, der in der Branche herrscht. Nicht umsonst gibt es in kaum einem anderen Gewerbe so viele Kündigungen. Wer »Boiling Point« gesehen hat, versteht, warum.
»Yes, Chef« (»Boiling Point«, UK 2021) ist auf DVD erhältlich und kann bei Apple TV gestreamt werden.
Die Miniserie »Boiling Point« (UK 2023) kann auf Netflix gestreamt werden.