Lesbische Wirkung
Der Tilgung lesbischer Errungenschaften lässt sich seit vielen Jahren sozusagen live verfolgen. Obwohl sie den ersten Buchstaben im Akronym LGBT stellen, sind Lesben inzwischen die Letzten, die mit diesem Kürzel gemeint sind. Das gilt nicht nur für die mittlerweile fast gänzlich aus der Öffentlichkeit verschwundenen lesbischen Einrichtungen, ob nun politischer oder geselliger Art, sondern auch für das Denken und jedwede Kulturproduktion. Der Widerwille, das Adjektiv »lesbisch« in den Mund zu nehmen, dürfte unter Personen, die sich für aufgeschlossen halten, nie größer gewesen sein.
Das hat selbstverständlich damit zu tun, dass man sich in der Linken nie sonderlich für die Selbstbehauptung weiblicher Homosexueller interessierte, weswegen das Adjektiv »queer« dort auch so populär werden konnte: Damit lässt sich zwar mit großer Verve über »die Unterdrückten« dozieren, zugleich aber komfortabel darauf verzichten, sich den historischen Besonderheiten oder auch den neuen Ausprägungen tatsächlicher »Unterdrückung« zu widmen.
Monique Wittig war die erste Schriftstellerin, die ihr literarisches Wirken explizit der lesbischen Emanzipation gewidmet hat, ohne daraus eine lesbische Identität abzuleiten.
Es lohnt sich deshalb, an Monique Wittig zu erinnern, die erste Schriftstellerin, die ihr literarisches Wirken explizit der lesbischen Emanzipation gewidmet hat, ohne daraus eine lesbische Identität abzuleiten – ein gravierender Unterschied zur aktivistischen Gegenwart. Vielmehr ging es der Autorin darum, nicht nur theoretisch, sondern auch erzählerisch über das Bekannte hinauszuweisen. Das erforderte nicht weniger als eine konzeptuelle Revolution, die sie im Gegensatz zu den unzähligen »Ansätzen«, die gegenwärtig vorgeben, an etwas Ähnlichem zu arbeiten, auch einlöste.
Durch Judith Butler zu einer Art Sekundärliteratur-Referenz degradiert
Wittig, 1935 im Elsass geboren und 2003 in Tucson, Arizona, gestorben, war schon zu Lebzeiten eine Legende. Als junge Schriftstellerin debütierte sie 1964 mit dem Roman »L’Opoponax«. Sechs Jahre später war sie Mitinitiatorin des Mouvement de libération des femmes, nahm zwischen 1968 und 1973 an diversen medienwirksamen Aktionen teil und wurde Mitglied einschlägiger Frauen- wie Homosexuellenorganisationen. In dieser Zeit veröffentlichte sie mit »Les Guérillères« (1969) und »Le Corps Lesbien« (1973) zwei weitere, schwierige Prosaarbeiten.
Mitte der siebziger Jahre verließ sie Frankreich, um mit ihrer Lebensgefährtin, der Regisseurin Sande Zeig, in die USA überzusiedeln. Dort wurde sie später Professorin für Romanistik und in den neunziger Jahren zu einer Art Sekundärliteratur-Referenz degradiert, da ihr Judith Butler in »Gender Trouble« ein Kapitel gewidmet hatte, das zwar analytisch danebengriff, aber wohl deshalb solche Resonanz fand, weil es die herausfordernde Lektüre von Wittigs Romanen ersetzte, die der Leserin einiges abverlangen.
Einen erfreulichen Effekt hatte dieses akademische Interesse allerdings, denn die dadurch generierte Aufmerksamkeit veranlasste Beacon Press – witzigerweise ein Unitarier-Verlag – 1992 dazu, einige Aufsätze Wittigs gesammelt zu veröffentlichen. Diese hatten in den anderthalb Jahrzehnten zuvor eine harte Kritik an den Prämissen der Frauenbewegung formuliert, aber auch literaturtheoretische Fragen behandelt. 31 Jahre nach Publikation des englischen Originals erschien kürzlich unter dem Titel »Das straighte Denken« die deutschsprachige Übersetzung von Arabel Summent und Benjamin Dittmann-Bieber etwas überraschend bei Merve.
»Materialistischer Lesbianismus«
Wie das jüngere Interesse an Wittig in anderen Ländern bereits gezeigt hat, folgen den differenzfeministischen und genderparadigmatischen Vereinnahmungsversuchen nunmehr queertheoretische. Ohne um die schweren Auseinandersetzungen zu wissen, die einst in der Pariser Frauenbewegung über begriffliche und politische Fragen geführt wurden, ist jedoch nicht verständlich, warum die Schriftstellerin damals für etwas plädierte, das sie in dieser Zusammenstellung als »materialistischen Lesbianismus« bezeichnet.
Es handelt sich dabei keineswegs um einen vergessenen Vorstoß, der das gegenwärtige Interesse an »Materialismus« geschlechtertheoretisch schärft, sondern um eine grundlegende Kritik an aktivistischen Bedürfnissen und Problemen ihrer Zeit, die sich allerdings mit einigem Gewinn zur Analyse heutiger Phänomene heranziehen lassen. Zugleich ist diese Veröffentlichung auch eine gewisse Wiedergutmachung, denn gerade die deutsche Rezeption Wittigs ließ schwer zu wünschen übrig. Eine Übersetzung ihres ersten Romans erschien 1966 bei Rowohlt, ist jedoch seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr erhältlich; die Übersetzung von »Les Guérillères«, die 1980 im Verlag Frauenoffensive erschien, darf als unlesbarer Schrott bezeichnet werden.
Zwar waren schon bei den klassischen Merve-Bändchen, die seit den siebziger Jahren das in Paris angesagte Denken in rascher Abfolge dokumentierten, kontextualisierende Vor- und Nachworte unüblich. Dass ein solches auch in »Das straighte Denken« fehlt, ist allerdings ein gehöriger Nachteil. Denn während sich in der klassischen Ära des stilprägenden Verlags jeder noch so periphere oder kryptische Titel von Michel Foucault, Gilles Deleuze, Félix Guattari oder Jean Baudrillard durch seine serielle Nachbarschaft erklärte, dürften die politisch-theoretischen Bezüge und Personen, die Wittig in ihrem Vorwort nennt, den meisten schon deshalb unbekannt sein, weil der materialistische Strang der französischen Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum schlichtweg nie rezipiert worden ist.
Ähnlich Simone de Beauvoir, deren wichtigste Schrift häufig auf ihren einen prominentesten Satz reduziert wird, ist vielen von Wittig nur bekannt, dass diese einmal gesagt habe, Lesben seien keine Frauen.
Ähnlich Simone de Beauvoir, deren wichtigste Schrift häufig auf ihren einen prominentesten Satz reduziert wird, ist vielen von Wittig nur bekannt, dass diese einmal gesagt habe, Lesben seien keine Frauen, weil eine »Frau« den »Mann« zum Referenten habe und Lesben folglich außerhalb dieser Ordnung stünden. Das ist mindestens verkürzt zu nennen; Klischee trifft es schon eher.
Wittig interessierte sich, wie man nun auf Deutsch nachlesen kann, für Heterosexualität als politische Institution – also nicht als sexuelle Orientierung, sondern als Möglichkeit zur Herrschaft. Das ist weitaus gewichtiger als die Gelehrsamkeit suggerierende Rede von der »Heteronormativität«, die sich durchgesetzt hat und regelmäßig dafür sorgt, dass an den schlimmsten Formen der Frauenverachtung gezielt vorbeigesehen wird, um sich milderen Belangen zu widmen. Hier hingegen geht es um Frauen und Männer als Klassen und um den Versuch, diese Klassen zu überwinden, aber auch um Literatur. Der besonders anregende Essay »Das trojanische Pferd« zeigt in Anlehnung an Marcel Proust, was wahrlich revolutionäre Arbeit mit Form ist; »Die Perspektive: universell oder spezifisch?« ist eine hervorragende Wegleitung für minoritäre Autorinnen, den partikularen Blick einfach sein zu lassen, um Prosa zu verfassen, die für alle interessant zu lesen ist.
Die Rolle der Sprache
Bei Wittig passiert pro Aufsatz in wenigen Zeilen mehr als in ganzen Queer-Theory-Monographien, die heute verlegt werden. Das liegt daran, dass deren Verfasser zu wenig mehr in der Lage sind, als prinzipiell nur noch miteinander und in purem Jargon zu kommunizieren. Für die Frage, was Sexualität als staatlich geformte Norm im 21. Jahrhundert überhaupt noch sein könnte und wie sich dieser Machtanspruch global unterschiedlich verteilt, interessieren sie sich genauso wenig wie für die Möglichkeit, dass ihre grotesk überhöhte »Community« auf völlig falschen Begrifflichkeiten fußen könnte. Wittig hingegen vermochte es, auf wenigen Seiten ein Problem konzeptuell begreifbar zu machen – auch weil sie eine betont klare Sprache verwendete und zudem, wie der titelgebende Aufsatz hervorhebt, von den Hochschuldiskursen enerviert war, die schon ab den frühen achtziger Jahren immer mehr Lebensbereiche durchdrangen.
Allerdings merkt man an diesem Punkt, dass Wittig die Rolle der Sprache bisweilen selbst überbewertete und mit ihrer Aufforderung an Lesben und Schwule, sich nicht länger als Frauen und Männer zu bezeichnen, auf einen Holzweg wies, dessen Effekte inzwischen in voller Pracht bestaunt werden können. Dafür kann sie zwar nichts und es ist eigentlich der am wenigsten interessante Gedanke am ganzen Band, er ist zeithistorisch aber hervorzuheben.
In »Homo Sum« nannte sie die Aufklärung »das erste Morgenlicht, das uns die Geschichte schenkte«.
Erfreulicherweise ist hier bereits die radikale Kritik an der geschlechterpolitischen Gegenwart und an dem formuliert worden, was heutzutage irrigerweise als Theorie firmiert, obwohl es sich in der Regel um bloßes Geplapper handelt. In ihrem auf Januar 1991 datierten Vorwort hielt Wittig fest, dass der damals in der englischsprachigen Diskussion schon gängige Begriff »gender« ungenau und deshalb unbrauchbar sei. Auch in anderen Fragen zeigte sie sich beharrlich konfrontativ, was zeitgenössische Debatten anbelangte. In »Homo Sum« nannte sie die Aufklärung »das erste Morgenlicht, das uns die Geschichte schenkte«.
Aufsatzsammlung als trojanisches Pferd
Dort kommentierte sie zudem den Götzendienst an der Alterität, der dieser Tage wieder munter gedeiht, auf sarkastische, wiewohl äußerst treffende Weise: »Das Gute findet sich jetzt nicht mehr in der Sphäre des Einen, des Männlichen, des Lichts, sondern in der Sphäre des Anderen, des Weiblichen, der Finsternis. Hoch soll also die Unvernunft leben, Leinen los auf allen Narrenschiffen, Karneval Alaaf, und so fort. Noch nie wurde das Andere derart verherrlicht und gefeiert. Andere Kulturen, der Geist des Anderen, das weibliche Gehirn, das weibliche Schreiben und so weiter – in den vergangenen Jahrzehnten durften wir das Andere sehr gründlich kennenlernen.«
Solche Gedanken machen die Aufsatzsammlung selbst zum trojanischen Pferd: Wer meint, Wittigs Werk lasse sich mit neumodischem Vokabular für dieses oder jenes aneignen, dürfte sich, sollten die hier versammelten Artikel tatsächlich begriffen werden, wundern, was diese alles bergen. In diesem Sinne eignet sich die späte Erstübersetzung bestens, sie an Personen zu verschenken, die ideologisch bereits verloren sind, die diese Essays aufgrund falscher Erwartungen, die sie dank universitärem Hörensagen mit dem Namen »Wittig« verbinden, aber lesen dürften. Dem Band ist jedenfalls zu wünschen, dass er auf diesem Wege in viele geistige Festungen gelangt und dort, wo es eigentlich längst zu spät ist, seine lesbische Wirkung entfaltet.
Monique Wittig: Das straighte Denken. Aus dem Englischen von Benjamin Dittmann-Bieber und Arabel Summent. Merve-Verlag, Leipzig 2023, 144 Seiten, 15 Euro