Kampf um Deutungshoheit
Man kann der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA, verzeihen, dass sich ihre Arbeitsdefinition von Antisemitismus etwas bürokratisch liest: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Denn als die Vertreter von damals noch 31 Mitgliedstaaten der IHRA die Definition in Bukarest am 26. Mai 2016 annahmen, hätten sie wohl nicht vorhersehen können, dass Techno-DJs, Theaterproduzentinnen oder Teilzeitkünstler sich darum reißen würden, ihren Senf in Instagram-Posts und offenen Briefen dazuzugeben.
Eigentlich wollte die IHRA mit ihrer Definition die Zusammenarbeit zwischen Fachleuten, Regierungen und der Zivilgesellschaft stärken, um Antisemitismus zu bekämpfen. Die Definition, die der drei Jahre zuvor formulierten Arbeitsdefinition zur Holocaustleugnung und -verharmlosung folgte, soll als rechtlich nicht verbindlicher Ausgangspunkt dienen; ein Anfang sein. Zur Verdeutlichung liefert die IHRA elf Beispiele dafür, wie sich Antisemitismus heutzutage äußert – von der jüdischen Weltverschwörung über Geschichtsrevisionismus bis zu israelbezogenem Antisemitismus. Die Definition der IHRA ist derzeit die global anerkannte Antisemitismus-Definition.
Doch seit der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) am 4. Januar bekanntgegeben hat, dass Empfänger:innen von Fördergeldern des Berliner Senats ab sofort eine Antidiskriminierungsklausel unterschreiben sollen, die sich auch gegen jede Form von Antisemitismus anhand der IHRA-Definition richtet, gibt es unter Israelkritiker:innen einen neuen Buhmann: die IHRA, eine Organisation, die wichtige Bildungsarbeit zur Erinnerung an die Shoah leistet.
Immer wieder wird die Behauptung vorgebracht, Israel dürfe man nach der IHRA-Definition nicht mehr kritisieren. Diese Behauptung ist allerdings falsch.
Ein offener Brief an Chialo aus der Berliner Kulturszene, der sich gegen »den Bekenntniszwang zur umstrittenen IHRA-Definition« richtet, hat inzwischen knapp 6.000 Unterschriften. Der Brief verweist auf eine »Alternativ-Definition«, die »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus«. Mitglieder der Akademie der Künste wie die Künstler Hito Steyerl und Wolfgang Tillmans haben sich inzwischen dem Protest in einer eigenen Mitteilung angeschlossen.
Und auch die absurde Boykottkampagne »Strike Germany« mit bislang über 1.000 Unterschriften – darunter die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und »Pose«-Star Indya Moore – will Deutschland kulturell »bestreiken«, unter anderem bis Kulturinstitutionen die »Jerusalemer Erklärung« statt der IHRA-Definition zugrunde legen. Chialo ruderte am Montag zurück und hob die Antidiskriminierungsklausel aufgrund von juristischen Bedenken wieder auf.
Es ist ein Kampf um Deutungshoheit. Die Debatte wird dabei bewusst umgelenkt: von dem tatsächlichen Problem mit Antisemitismus in Kunst und Kultur auf die Suche nach der »richtigen« Definition. Als könnte man Judenhass bekämpfen, indem man ihn einfach wegdefiniert.
Doch erstens ist die IHRA-Definition gar nicht so »umstritten«, wie manche gerne behaupten: Sie wurde inzwischen von 39 Staaten sowie unzähligen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen weltweit angenommen und sie wird von der überwiegenden Mehrheit jüdischer Organisationen weltweit verwendet – in Deutschland unter anderem von der Antisemitismus-Meldestelle Rias, dem Zentralrat der Juden und der Beratungsstelle Ofek.
Und zweitens tun sich ihre Kritiker:innen oft schwer damit, genau zu benennen, mit welchem Teil der Definition oder ihrer Beispiele sie ein Problem haben: Holocaustleugnung? Ritualmordlegende? Oder geht es nur um die Ablehnung von jüdischer nationaler Selbstbestimmung?
Immer wieder wird die Behauptung vorgebracht, Israel dürfe man nach der IHRA-Definition nicht mehr kritisieren. Diese Behauptung ist allerdings falsch. Direkt nach der Feststellung, dass sich »Erscheinungsformen von Antisemitismus« auch »gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird« richten können, steht in der der Arbeitsdefinition zugestellten Erläuterung der Satz: »Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.«
Gleichzeitig ist auch die als Alternative zur IHRA-Arbeitsdefinition entworfene »Jerusalemer Erklärung« nicht der Freibrief, den viele Israelkritiker:innen sich offenbar wünschen. Von 20 Akademiker:innen erarbeitet, im März 2021 veröffentlicht und inzwischen von rund 350 Wissenschaftler:innen und Autor:innen unterschrieben, lautet diese Definition: »Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).«
Recht wenig ist per se antisemitisch, der Kontext ist entscheidend – und eben dieser fehlt bei der »Jerusalemer Erklärung«.
Hinzu kommen 15 »Leitlinien«, die sich eher wie ein politisches Manifest als wie eine wissenschaftliche Definition lesen. Ein Drittel von ihnen dreht sich darum, was in Bezug auf Israel und Palästina »nicht per se antisemitisch« sei – wie etwa Vorwürfe der Apartheid und des Siedlerkolonialismus oder offenbar auch die Vernichtungsparole »from the river to the sea«.
Das ist aus drei Gründen problematisch: Erstens ist recht wenig per se antisemitisch, der Kontext ist entscheidend – und eben dieser fehlt bei der »Jerusalemer Erklärung«. Zweitens ist »nicht per se« kein Synonym für »niemals«. Und drittens wird die Erklärung dadurch deutlich schwammiger als die IHRA-Definition, deren vermeintliche Vagheit sie eigentlich korrigieren wollte. Denn sie bietet keine Anhaltspunkte, um zu erkennen, in welchen Kontexten das, was »nicht per se« antisemitisch ist, es eben doch ist.
Die »Jerusalemer Erklärung« thematisiert aber tatsächlich auch den israelbezogenen Antisemitismus. Und das Expertengremium der Documenta 15, das den Antisemitismus auf der Ausstellung aufgearbeitet hat, kam beispielsweise in seinem Abschlussbericht zu dem Schluss, dass selbst nach der »Jerusalemer Erklärung« eindeutig antisemitische Werke auf der Kunstschau gezeigt wurden.
Klar wird: Es geht den sogenannten Israelkritiker:innen nicht um die »richtige« Definition. Es geht bloß um eine, von der sie annehmen, dass diese sie vom Vorwurf des Antisemitismus entlastet.