Bei einer Veranstaltung in Berlin

Überlebende des Hamas-Massakers berichten: »Dass ich lebe, ist reiner Zufall«

Millet, Adele, Nimrod und Nir überlebten den Angriff der Hamas vom 7. Oktober. In Berlin berichteten sie von ihren Erfahrungen.

Auf dem Boden spielen Kleinkinder. Sie lachen und sind lebhaft. Um sie herum sind Stühle aufgebaut. Rund 50 Menschen werden an diesem Abend in den Räumen des israelischen Gemeindezentrums von »Zusammen Berlin« erwartet. Der Verein versteht sich als Zusammenschluss der israelischen Gemeinschaft der Stadt. »Bitte teilt diese Adresse nicht«, hieß es in der Bestätigungs-E-Mail nach erfolgreicher Anmeldung.

»Wir hätten die Veranstaltung gerne für alle geöffnet«, aber das gehe aus Sicherheitsgründen nicht, sagt Sharon von Zusammen Berlin der Jungle World. »Also müssen wir auch unsere Adresse schützen.« Eine private Sicherheitsfirma schütze derzeit die Räume. Gezahlt wird aus eigener Tasche. Deshalb musste die Gruppe, wie Sharon erzählt, bereits ihre Aktivitäten um die Hälfte reduzieren. »Wir haben nicht genug Geld, um den ganzen Tag Sicherheit zu gewährleisten.«

An diesem Abend sprechen Über­lebende des 7. Oktober. Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und die israelische Botschaft waren an der Organisation beteiligt. »Wir wollen, dass die Leute die Wahrheit er­fahren«, sagt Sharon. Hier gehe es um ganz grundsätzliche menschliche Werte. »Es geht nicht um Israel oder Palästina.«

»Ich fühle mich, als wäre ich auch umgebracht worden.« Millet, Überlebende des 7. Oktober

Mit etwas Verspätung betreten Millet, Adele, Nimrod und Nir den Raum. »Ich hoffe, dass Ihnen dieser Bericht Kraft gibt«, sagt Millet und fängt an, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sei auf dem Supernova-Festival tanzen ge­wesen, als sie um 6.30 Uhr am Himmel die Raketen gesehen habe. Zu der Zeit hätten viele Besucher unter dem Einfluss von Drogen gestanden. Das ist ihr wichtig zu betonen, denn es verdeutliche die Hilflosigkeit der Festivalbesucher.

Zuerst habe sie versucht, mit dem Auto zu fliehen, berichtet Millet. Aber die Straßen seien allesamt von den Terroristen blockiert gewesen. Also hätten sie und ihre Freunde irgendwann das Auto verlassen und seien in die Felder Richtung Sonne gerannt. »Der Sonnenaufgang ist die entgegengesetzte Richtung zu Gaza.« Die Wüste im Süden Israels bietet nicht besonders viele Möglichkeiten, sich zu verbergen. Schließlich habe sie jedoch nach mehreren Stunden einen Busch gefunden, unter dem sie sich verstecken konnte. »Wir waren bewegliche Ziele.«

Millet habe versucht, die Polizei zu erreichen. Als sie durchkam, habe ein Polizist ihr gesagt, sie solle nicht in die umliegenden Ortschaften fliehen, sondern sich irgendwo in der Natur verstecken. Man habe gerade keine Einsatzkräfte, die sie zur Hilfe schicken könnten; es tue ihm leid.

Die Terroristen seien immer näher gekommen. »Ich habe sie laufen, reden und lachen hören«, erinnert sich Millet. Eine Person ganz in ihrer Nähe sei von den Terroristen entdeckt worden. »Er schrie nach Hilfe.« Millet unterbricht. Tränen sind in ihren Augen zu sehen. »Wir konnten ihm nicht helfen.« Sie selbst wurde nach sechs Stunden, die sie sich in dem Busch versteckt hielt, gerettet. Sie erzählt von einem Mann, Leon Bar, der zwei Tage lang nach den Festivalbesuchern gesucht habe, um diese zu retten; so auch Millet – bis er selbst ermordet wurde. »Dank ihm bin ich heute hier.«

»Ich fühle mich, als wäre ich auch umgebracht worden.« Millet treffe seit dem 7. Oktober keine Freunde mehr, die nicht auf dem Festival waren. Auch ihre Familie sehe sie nur sehr selten. »Ich kann keine Musik mehr hören oder tanzen.« Früher war sie DJ. »Ich habe viele neue Freunde«, sagt sie, »andere Überlebende des Massakers.« Das sei die einzige Gesellschaft, in der sie sich noch »normal« fühle.

Überall um Nimrod herum lagen tote ­Zivilisten, »ein absolutes Massaker«.

Die gebürtige US-Amerikanerin Adele kommt aus einem Kibbuz zwei Kilometer entfernt von Gaza. »95 percent heaven« nennt sie die Gegend, in der sie lebt. Denn zu 95 Prozent sei es friedlich dort und der ideale Ort, Kinder großzuziehen. Am 7. Oktober jedoch habe es sich in eine hundertprozentige Hölle verwandelt.

Auch Adele hörte um 6.30 Uhr die Raketen. »Wo wir leben, haben wir null bis zehn Sekunden, um uns in Sicherheit zu bringen.« Jedes Haus nahe der Grenze muss einen Sicherheitsraum haben – zum Schutz vor den Raketen. Diese Räume bieten allerdings keinen Schutz vor Eindringlingen: Sie können von innen nicht verschlossen werden, da sie bei einem medizinischen Notfall von außen zugänglich sein müssen. Der einzige Weg, sie verschlossen zu halten, ist es also, die Türklinke festzuhalten.

Ihre Gemeinschaft, erzählt Adele, lebe seit 1947 in dieser Gegend Israels und habe sich immer um ein friedliches Zusammenleben mit ihren palästinensischen Nachbarn bemüht. Sie hätten diese unterstützt, sie beispielsweise in israelische Krankenhäuser ­gefahren. »Das waren die Leute, die in unser Kibbuz gekommen sind, um uns abzuschlachten.« Seit 20 Jahren würden die Kinder dort mit Hass er­zogen. Frieden könne es erst dann geben, wenn es die Hamas nicht mehr gebe. Adele will zurück in ihr Kibbuz: »Ich möchte einfach nur nach Hause« – vorausgesetzt, dass sie zukünftig dort in Sicherheit leben kann.

Der 39jährige Nimrod habe in einem Video gesehen, wie Zivilisten gegen Terroristen kämpften. Also sei er Richtung Gaza gefahren, um die Menschen zu unterstützen. Auf dem Weg habe er einen Anruf seiner früheren Ehefrau bekommen. Ihr Partner sei mit ihren Kindern im Sicherheitsraum. Das Haus werde angegriffen und niemand sei da, um sie zu beschützen.

Nimrod ging davon aus zu sterben. Die Videos, die er während der Fahrt sah, zeigten schwerbewaffnete Terroristen. Er dagegen habe nur eine Pistole bei sich gehabt. Als er im westlichen Teil der Negev-Wüste ankam, habe über sämtlichen Kibbuzim Rauch gestanden. Irgendwann sei auf sein Auto geschossen worden. Er sei aus dem Fahrzeug gesprungen, habe das Gewehr eines toten Soldaten genommen und zurückgeschossen.

Überall um ihn herum lagen tote ­Zivilisten, »ein absolutes Massaker«. Er selbst sei in der Brust getroffen worden. Glücklicherweise habe er wenige Minuten zuvor eine kugelsichere Weste gefunden, die ihm das Leben rettete. Er erzählt, wie er von allem Bilder und Videos gemacht habe. »Ich wusste, das Narrativ wird sich ändern.« Die Bilder und Videos sollten also als Beweis dienen, um Falschbehauptungen, die die Massaker verharmlosen, leugnen oder als Widerstand verherrlichen, etwas entgegenzusetzen.

Zuletzt spricht Nir. Er war mit seinen Töchtern im Alter von vier beziehungsweise sechs Jahren zu Hause, als der Angriff begann. Er berichtet von 300 bis 500 Terroristen in seinem Kibbuz, in dem lediglich 400 Menschen leben. Für ihn habe es zwei zentrale Aufgaben gegeben: »Meine Töchter und ihre Seelen zu beschützen.« Also verbarri­kadierte er sich mit ihnen im Sicherheitsraum und erzählte ihnen Geschichten. Es sei ein Probeeinsatz der israelischen Armee. Sie sollten nicht wissen, dass da draußen Menschen wüteten, die sie umbringen wollen, erklärt Nir.

Währenddessen habe er Nachrichten im Gruppenchat des Kibbuz bekommen. »Mein Mann ist tot«, »Bitte helft mir« oder »Sie zünden unser Haus an«, sei da zu lesen gewesen. Irgendwann seien die Terroristen auch in seinem Haus gewesen, berichtet Nir. Sie hätten versucht, in den Sicherheitsraum zu gelangen, es irgendwann aber aufgegeben. Nir hielt die Tür­klinke stark genug fest. Das Ganze habe sich über sechs Stunden noch mehrmals wiederholt.

»Sie haben höllisch gelacht«, regelrecht gefeiert, so Nir. »Ich habe Frauen und Kinder in meinem Haus gehört.« Nir berichtet, dass auch palästinensische Zivilisten in seinem Haus gewesen seien. Seine Kinder hätten immer wieder gefragt, wer das sei. Er habe wiederholt beschwichtigt, das seien israelische Soldaten, die trainieren. Die Armee ließ jedoch stundenlang auf sich warten. Es habe keine Kämpfe gegeben. Die Bewohner des Kibbuz seien den Terroristen für Stunden ausgeliefert gewesen.

Nir berichtet, dass irgendwann die Stromversorgung im Kibbuz lahmgelegt wurde. »Im Sicherheitsraum war es komplett dunkel und sehr heiß.« Nir beschreibt die Situation: »Die Klima­anlage funktionierte nicht mehr. Wir hatten kein Wasser, kein Essen. Wir mussten in Kisten pinkeln.«

Nir hat sein Zuhause verloren. Zurückzukehren kommt für ihn nicht in Frage. Er sagt, dass Mitglieder seiner Gemeinschaft es so beschreiben, als würden sie nach Auschwitz zurückkehren.

Als das israelische Militär schließlich kam und die Überlebenden befreite, konnte sich Nir erstmals einen Gesamteindruck von der Zerstörung machen. »Das ganze Kibbuz stand in Flammen.« 130 seiner Nachbarn, er bezeichnet sie als seine Brüder und Schwestern, seien entweder verschleppt oder abgeschlachtet worden. Auch seine Großmutter und sein Bruder wurden entführt. Wie es ihnen geht, weiß er nicht.

Nir hat sein Zuhause verloren. Zurückzukehren kommt für ihn nicht in Frage. Er sagt, dass Mitglieder seiner Gemeinschaft es so beschreiben, als würden sie nach Auschwitz zurückkehren. Man wolle aber als Gemeinschaft zusammenbleiben und sich gemeinsam etwas Neues aufbauen.

Alle berichten davon, dass sie über Stunden mit den Terroristen allein­gelassen worden seien. Wut und Enttäuschung über die israelische Regierung ist spürbar. Millet ist für einen Moment unsicher, blickt mit einem verlegenen Lächeln zu ihrem Begleiter von der israelischen Botschaft. »Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf.« Er lacht, sagt: »Ihr dürft alles sagen, ich ­jedoch nicht.« Man merkt, dass sich die Sympathien für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in Grenzen halten. Den Israel Defence Forces aber vertrauen sie. Sie sind sich sicher, dass diese die Lage unter Kon­trolle und die Geiseln zurück nach Hause bringen.

Maria vom Jungen Forum betont im Gespräch mit der Jungle World, dass es wichtig sei, die Geschichten der Überlebenden zu hören und weiterzutragen. »Schon direkt nach dem Angriff wurde die antisemitische Gewalt relativiert und teilweise gerechtfertigt.« Um dem entgegenzuwirken, habe man sich an der Organisation der ­Veranstaltung beteiligt. In Zeiten des Antisemitismus »tut es gut, mit Menschen aus Israel zusammenzukommen, unsere Verbindung zu stärken und daraus neue Kraft zu gewinnen«.