Dienstleister des transnationalen Antisemitismus
Der Angriff der Hamas war eine bisher beispiellose Eskalation im Krieg gegen Israel. Überlegungen zum 7. Oktober und seinen Implikationen.
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Seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sind kaum mehr als eineinhalb Jahre ins Land gegangen und wieder macht das Wort Zeitenwende die Runde. »Zeitenwende in Nahost« titelte beispielsweise die Taz eine Woche nach dem Horrorangriff der Hamas. Und in der Tat, der 7. Oktober stellt so etwas wie einen Meilenstein in der Geschichte des Krisenzeitalters dar. Die Krise der Politik erreicht eine neue Qualität, und zwar nicht nur im Nahen Osten, sondern auch, was die Weltgesellschaft insgesamt angeht.
Die Welle von verdecktem, aber auch offenem Antisemitismus, die angesichts des israelischen Gegenschlags im Gaza-Streifen um die Welt schwappt, zeigt, wie sehr gerade heutzutage Juden und Jüdinnen auf eine sichere Fluchtburg angewiesen sind. Gleichzeitig hat der Angriff der Hamas deutlich gemacht, dass es dem Staat Israel immer schwerer fällt, diese Funktion zu erfüllen.
Was die militärischen Kräfteverhältnisse angeht, ist Israel schon lange weit von der Position entfernt, die es in und nach dem Sechstagekrieg innehatte. Selbst wenn der derzeitige Konflikt mit der Vernichtung der Hamas enden sollte – die Zeit, in der die israelische Gesellschaft dank der militärischen Überlegenheit ihrer Armee in einer prekären, von Terrorangriffen unterbrochenen Halbwegs-Normalität lebte, dürfte abgelaufen sein.
Bei der Hamas bildet die Gewaltzelebrierung den eigentlichen Inhalt, das eigentliche Programm. Das bedeutet eine doppelte Entgrenzung von Gewalt.
Offiziell mag im Augenblick angesichts des Terrors Burgfrieden herrschen, doch ist die israelische Gesellschaft zutiefst zerrissen. Der laizistische und linksliberale Teil kommt nicht umhin, früher oder später den Konflikt mit der Rechten (wieder)aufzunehmen, schon weil deren Politik eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellt. Nicht nur, dass die Rechte mit ihrer Siedlungspolitik und ihren rassistischen Ausfällen den Konflikt verschärft und insofern Kräften wie der Hamas zuarbeitet; das rechte Programm gefährdet auch die Schlagkraft der israelische Armee. Mit dem Siedlerschutz überdehnt und verzettelt diese ihre Kräfte zu Lasten ihrer Kernaufgabe.
Israels Armee ist als eine klassische staatliche Armee für den symmetrischen Konflikt mit anderen Staaten entstanden. Der letzte wirklich zwischenstaatliche Krieg, den Israel führen musste, war der Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973, und er dürfte der letzte bleiben. Mit asymmetrischen Konflikten tut sich die israelische Armee deutlich schwerer. Denn die lassen sich kaum in wenigen Tagen durch einen kurzen Krieg entscheiden, sondern ziehen sich in die Länge.
Das galt im Prinzip auch schon für die Auseinandersetzung mit der PLO. Als »nationale Befreiungsbewegung«, die einen Staat aus der Taufe heben wollte, verblieb diese aber wenigstens in ihrem Verhältnis zur Gewalt im Clausewitz’schen Universum. Für sie waren bewaffnete Aktionen also eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Gewaltanwendung zielte in erster Linie darauf, eine vom Standpunkt eines palästinensischen Nationalismus günstige Friedensordnung zu erreichen. Zwar war auch das Programm der PLO schon mit antisemitischen Elementen durchsetzt, doch stand das politische Ziel der eigenen Staatsgründung im Vordergrund. Daraus resultierte ein zweckrationales Verhältnis zur Gewalt, das die Formen der Gewaltanwendung limitierte.
Das ist bei der Hamas anders. Hier bildet die Gewaltzelebrierung den eigentlichen Inhalt, das eigentliche Programm. Das bedeutet eine doppelte Entgrenzung von Gewalt. Zum einen, was ihren Vollzug angeht: Gewalt bekommt einen performativen Charakter. Je gruseliger sie ist und je harmloser die Opfer, die sie trifft, umso besser; das Töten von Zivilisten hört auf, »Kollateralschaden« zu sein, und wird Selbstzweck.
Entgrenzt ist zum anderen aber auch das mit Gewalt zu erreichende Ziel: Man träumt nicht einfach von einem Sieg über den Staat Israel, sondern von der Eliminierung des Judentums in Nahost. Dieser zweite Aspekt geht damit einher, dass auch die Dauer der gewaltsamen Auseinandersetzung entgrenzt wird. Natürlich kann der Krieg pausieren, aber er kann nicht enden – es sei denn mit der Eliminierung des jüdischen Staats.
Wer auf die Eliminierung der Eliminierer hofft, hofft vergebens. Selbst wenn es gelingen sollte, die Hamas auszulöschen, würde das Israel nur befristet Luft verschaffen. Die Nachfolgekandidaten stehen schon bereit.
Robert Kurz hat schon vor gut 20 Jahren angemerkt, der palästinensische Staat sei der erste Staat der Geschichte, der schon vor seiner Gründung zerfallen sei.
Das Verhältnis der Hamas zur Gewalt hängt eng mit dem poststaatlichen Charakter dieser Organisation zusammen. Robert Kurz hat schon vor gut 20 Jahren angemerkt, der palästinensische Staat sei der erste Staat der Geschichte, der schon vor seiner Gründung zerfallen sei. Damit hatte er recht. Im Gaza-Streifen lässt sich auf schreckliche Weise studieren, wie sich Macht in einem zusammengebrochenen Staat organisiert. Während der klassische Staat die Gesellschaft repressiv zusammenfasst und den Rahmen für die kapitalistische Reichtumsproduktion herstellt, auf die er dann seinerseits zum Zweck der eigenen Reproduktion zugreift, verschafft sich die Hamas die notwendigen Ressourcen durch Geiselnahme der auf »ihrem« Territorium befindlichen »eigenen« Bevölkerung.
Zum einen profitiert sie von der katastrophalen humanitären Lage in ihrem Herrschaftsgebiet, die sie selbst wesentlich mitverschuldet, indem sie sich qua Gewaltmonopol an den Hilfsleistungen von UN und Hilfsorganisationen bedient; als Regierung im klassischen Sinne betätigt sie sich nicht, denn die Funktion, den Reproduktionsrahmen der Gesellschaft prekär zu sichern, ist an Hilfsorganisationen ausgelagert.
Zum anderen hängt die Hamas am Tropf privater und staatlicher ausländischen Gönner, denen sie aber natürlich eine Gegenleistung schuldet. Sie reüssiert als Dienstleister des transnationalen Antisemitismus, dem sie die Bilder liefert, nach denen dieser giert, und konkurriert darin mit anderen islamistischen Terrorgruppen. Auch hier kann man insofern von einer Geiselnahme sprechen, als sie die Menschen in Gaza nur als Material für diese blutige Inszenierung nutzt.
Diese Form der Reproduktion macht Krieg und Zerstörung in Permanenz zum Fluidum dieser Organisation. »Der Krieg ernährt den Krieg«, lautete während des Dreißigjährigen Kriegs ein geflügeltes Wort. Diese Logik kehrt in einer postmodernen Version wieder. Es versteht sich von selbst, dass für Israel als einen regulären Staat ein Dauerkrieg katastrophale Folgen hat. Wenn ein Gutteil der erwerbstätigen Bevölkerung ihrem Beruf nicht nachgehen kann, sondern Uniform anziehen muss, dann ist das auch mittelfristig nur durchzuhalten, wenn das Land intensiv von außen unterstützt wird. Aber selbst dann hat ein dauerhafter Kriegszustand katastrophale gesellschaftliche Folgen.
Der 7. Oktober fügt sich ein in einen beginnenden Weltbürgerkrieg, in dem autoritäre Regimes und nichtstaatliche Akteure sich daranmachen, die Regeln der Weltpolitik ihren Bedürfnissen anzupassen und die Welt in Claims aufzuteilen. Hierin findet die neoliberale Privatisierungslogik insofern ihre Fortsetzung, als der Staatsapparat zur Beute und zum Mittel der privaten Bereicherung wird. Der Mangel an positiver Integrationskraft solch kleptokratischer Herrschaft wird kompensiert durch ethnizistischen oder religionistischen Fundamentalismus und die Mobilisierung gegen äußere Feinde.
In dieses Szenario fügt sich die Wiederkehr des eliminatorischen Antisemitismus als ein Moment des Zerfalls und Selbstzerstörung ein – nicht nur im Nahen Osten. Was die arabische Welt angeht, könnte man den Überfall vom 7. Oktober als Kontrapunkt zum »Arabischen Frühling« und vermittelt als Konsequenz aus dem Scheitern emanzipativer Hoffnungen begreifen. Und auch die Aussichten sind düster. Dass Israel der letzte Staat sein sollte, der im Rahmen einer emanzipativen Aufhebungsbewegung verschwindet, gehört zu den Standards einer reflektierten Kritik am Antisemitismus. Bei der autoritaristischen Transnationale könnte sich womöglich die entgegengesetzte Logik herausmendeln. Der einzige Staat, den es unbedingt vom Antlitz der Erde zu tilgen gilt, ist Israel.
Das Geld, mit dem Katar und Co. die Hamas finanzieren, stammt aus Ölquellen und verdankt seine Existenz dem Energiehunger vor allem des Westens.
Auch wenn der Westen von dieser Entwicklung kalt erwischt wird, ist er keineswegs unschuldig an ihr. Zum einen wirkt sich verheerend aus, dass die Durchsetzung der liberalen Weltordnung mit gesellschaftlicher Emanzipation gleichgesetzt wurde, obwohl sie für die Mehrheit der Weltbevölkerung nur Ausschluss und Elend bedeutet. Das berüchtigte Tina-Prinzip (There is no alternative) hat ein Vakuum geschaffen, das nun von regressiven Kräften gefüllt wird, die selbst nur die dunkle Rückseite der »westlichen Werte« repräsentieren und die das Zerstörungswerk des Liberalismus auf ihre Weise fortsetzen.
Zum anderen rächt sich, dass die EU und die USA zwar Lippenbekenntnisse für Demokratie, Menschenrechte et cetera leisten, in der Praxis aber nach wie vor mit den Machthabern kollaborieren und die emanzipative Opposition de facto im Stich lassen, wo sie sich wie im »Arabischen Frühling« oder jüngst im Iran formiert.
Hinzu kommen schließlich die ökonomischen Verflechtungen: Das Geld, mit dem Katar und Co. die Hamas finanzieren, stammt aus Ölquellen und verdankt seine Existenz dem Energiehunger vor allem des Westens. Wer demgegenüber jedoch zum Kampf gegen den »westlichen Imperialismus« aufruft, übersieht, dass er damit nur den autoritären und fundamentalistischen Kräften in die Hände spielt, die den »Antiimperialismus« längst schon gekapert haben und für ihre düsteren Ziele instrumentalisieren.