Die Freiheit der Barbarei
Wenn alle Welt sich anschickt, offene Briefe zu verfassen, zu unterzeichnen und herumzureichen, in denen Israel das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird, wollen auch die hiesigen »Wissenschaftler*innen« nicht hintanstehen, sich »kritisch« zu positionieren. Während im internationalen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb ganz unverhohlen gegen Israel und für einen angeblichen palästinensischen Befreiungskampf Partei ergriffen wird, muss sich die Parteinahme hierzulande einiger argumentativer Verrenkungen bedienen, um nicht sofort als die antiisraelische Propaganda aufzufallen, die sie ist.
So geht es im »Brief aus Berlin – kritische Wissenschaftler*innen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit« auch nur am Rande um den derzeitigen Konflikt in Nahost – gleichwohl man es sich nicht nehmen lässt, auf die »kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung« in Gaza sowie die »von Expert*innen als genozidal« eingeordneten Militäroperationen der israelischen Regierung hinzuweisen und einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Im Einklang mit den jüngsten Äußerungen von Judith Butler und Slavoj Žižek plädiert man für eine Anerkennung der »politischen Rahmenbedingung« der Massaker der Hamas. Diese seien die »israelische Blockade des Gazastreifens sowie die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im Westjordanland«.
Dass zuallererst die Hamas und die sie unterstützenden Palästinenser und Geldgeber für die desolate Situation in Gaza verantwortlich sind, bleibt unerwähnt. Die angemahnte Kontextualisierung erfolgt ausschließlich zu Ungunsten Israels. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass 1937, 1947, 1967, 2000 und 2008 jegliche Angebote einer Zweistaatenlösung oder eines Friedensabkommens, sei es seitens der UN oder Israels, von palästinensischer Seite abgelehnt wurden. Stattdessen wird all jenen eine »Politik der Vorverurteilung« vorgeworfen, die die »Analyse der sozialen Ursachen für Gewalt« ausblenden. Wer die katastrophale Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht in dieser Manier einseitig auf das Handeln Israels zurückführt, bürde sich »innerhalb des aktuellen Konflikts eine enorme Schuld an seiner weiteren Eskalation auf«.
Einmal abgesehen davon, dass die Hamas-Anführer über ein Vermögen in Milliardenhöhe verfügen, kann selbst die schlimmste soziale Lage nicht das irrationale, weil religiös begründete Ziel der Vernichtung alles Jüdischen erklären. Im Brief wird kurioserweise aber Israel die genozidale Intention unterstellt, die die Hamas antreibt, was diese ja auch offen erklärt.
Aus Sicht der Verfasser des Briefes ist der Vorwurf des Antisemitismus lediglich ein Vorwand der Polizei, um ihren Rassismus gegenüber Migranten auszuleben zu können.
Das eigentliche Thema des Briefs ist jedoch der Rassismus.Dieser zeige sich unter anderem in der Kriminalisierung ganzer Stadtteile durch Praktiken des »racial profiling« sowie in einer »rassistischen Logik der Gleichsetzung« von »Solidarisierungsbekundungen mit der palästinensischen Zivilbevölkerung« mit »Hamas-Verharmlosung oder gar -Verherrlichung«. Auf die Idee, dass Demonstrationsverbote und Polizeigewalt die – bisweilen vielleicht überzogenen – Reaktionen auf einen grassierenden Antisemitismus bei entsprechenden Veranstaltungen sein könnte, kommt man nicht. Aus Sicht der Verfasser des Briefes ist der Vorwurf des Antisemitismus lediglich ein Vorwand der Polizei, um ihren Rassismus gegenüber Migranten auszuleben zu können.
Es ist schlicht absurd, anlässlich einer pogromartigen Stimmung gegen Juden in einigen migrantisch geprägten Milieus eben jenen staatlichen Einrichtungen ein repressives und gewaltsames Vorgehen vorzuwerfen, die den Schutz jüdischen Lebens zu garantieren haben. Es ist auch perfide zu behaupten, im Zuge einer »Eskalation seitens des Staates« würden nicht zuletzt Juden Opfer von Polizeigewalt. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Gruppe »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, die zuletzt zusammen mit der Gruppe »Palästina spricht« zu Demonstrationen aufrief. Letztere bezeichneten die Terroristen der Hamas, die am 7. Oktober das Massaker im Süden Israels verübten als »Widerstandskämpfer«, die »israelische Siedlungen auf indigen palästinensischem Land« angegriffen hätten. »Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch«, schrieb die »Jüdische Stimme«.
Den Unterzeichnern des Briefs gilt das staatliche Verbot von gewaltverherrlichenden und antisemitischen Kundgebungen als inakzeptable Verletzung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Es sei »rassistischer Populismus«, die »antisemitische Gefahr in Deutschland primär in Protesten gegen die Gewalt des israelischen Militärs im Gazastreifen zu verorten«, denn das ignoriere »die historisch tiefen und gesellschaftlich wirkmächtigen antisemitischen Tendenzen in breiten Teilen der Gesellschaft, Polizeibehörden und Parlamenten«. Nun soll an dieser Stelle sicherlich nicht der mehr oder weniger latente Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung geleugnet werden. Trotzdem gehen die derzeit zu beobachtenden Aktionen gegen Juden und jüdische Einrichtungen ganz überwiegend auf das Konto migrantischer Aktivisten und ihrer antiimperialistischen bzw. postkolonialen allies.
Die im Brief vorgenommene krude Entgegensetzung von unterdrückendem Staat und unterdrückten Minderheiten bildet gemeinhin die Grundlage des manichäischen Weltbilds des Postkolonialismus. Mit dieser universell einsetzbaren Interpretationsschablone lässt sich aus Sicht ihrer Vertreter der israelisch-palästinensische Konflikt ebenso wie die Situation in Deutschland erklären. Im ersten Fall führt die Anwendung postkolonialer Theorie dazu, die Staatsgründung Israels entgegen den historischen Fakten als koloniales Siedlerprojekt misszuverstehen, weswegen ein Ende der als illegal und unmoralisch bezeichneten Besatzung gefordert wird. Im zweiten Fall führt sie dazu, eine Koalition von rassistisch verfolgten Palästinensern und antisemitisch angefeindeten Juden zu konstruieren, die es – bis auf ganz wenige Ausnahmen – kaum gibt.
Die Frage, warum Juden und Palästinenser nicht häufiger gemeinsam protestieren, wird in dem offenen Brief freilich nicht gestellt; zweifellos aber würden die Verfasser dies nicht etwa den Vernichtungsphantasien der überwiegenden Mehrheit der Palästinenser gegen Israel anlasten. Stattdessen klagen sie über staatliche Demonstrationsverbote, die Palästinenser und »jüdische, israelische Regimekritiker*innen« gleichermaßen daran hindere, ihre Trauer und »öffentliche Anteilnahme« zu zeigen. Das Vorgehen von Polizei und Regierung falle damit letztlich »zulasten der Angehörigen und Anteilnehmenden beider Seiten in diesem Krieg« aus.
Die Repression durch Politik und Polizei erschwere »das solidarische Zusammenleben, das in Berlin an vielen Stellen praktiziert wird«, und »verhindert aktiv politische Allianzen zwischen marginalisierten Gruppen«. Kurzum: Es seien der Staat und seine Organe, die verhindern, dass zusammenkommt, was eigentlich zusammengehört. Dementsprechend müsse der gemeinsame Kampf aller progressiven Kräfte den »gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen« gelten, aus denen Antisemitismus und Rassismus beständig hervorgingen.
Denn schließlich gelte: »Repression schürt Ressentiments. Gewalt erzeugt Gegengewalt«. Ob sich ein Staat – wie im Falle Israels – mit gezielten Militäroperationen gegen Vernichtungsangriffe zur Wehr setzt oder aber – wie im Falle Deutschlands – antisemitischen Mobs Einhalt zu gebieten versucht, ist aus Sicht der Verfasser des Briefes offenbar vernachlässigbar.
Mitinitiatoren des Briefes sind Robin Celikates, Daniel Loick und Vanessa E. Thompson. Alle drei versuchen, die Kritische Theorie mit dem politischen Aktivismus sozialer Bewegungen zu kombinieren. Demokratische und zivilgesellschaftliche Selbstorganisation (der Marginalisierten) wird als das Gegenmodell zur Heteronomie des Staates (der Mehrheitsgesellschaft) beschworen. Wo der Staat endet, so ließen sich die entsprechenden Ansätze zusammenfassen, beginnt das Reich der Freiheit: Der »Kampf um Befreiung ist der Kampf um Abolition« – hier zu verstehen als Abschaffung der Staatsgewalt –, so etwa die Ankündigung für Daniel Loicks neues Buch »Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften«. Dass das Ende der Staatlichkeit im Falle Israels die Auslöschung des Judentums bedeuten würde, wird dabei ignoriert.