Welche sozialen Medien könnten Elon Musks X ablösen?

Unter dem Zeichen des Mammuts

X, ehemals Twitter, ist out: Immer mehr Nutzer schauen sich nach anderen Optionen um. Die Auswahl reicht von rechtsextremen Nischen­programmen wie Gab bis zum dezentral verwalteten Open-Source-Netzwerk Mastodon.

Das ist Macht: Für 44 Milliarden US-Dollar eine Online-Plattform zu kaufen, die aus den öffentlichen Debatten und dem Journalismus kaum noch wegzudenken ist, und sie dann für viele ihrer bisherigen Nutzer:innen zu ruinieren. Und das offenbar nicht aus finanziellem Interesse – denn zumindest bisher sieht es nach einem Verlustgeschäft aus –, sondern nicht zuletzt aufgrund eines narzisstischen Geltungsdrangs und einer persönlichen Abnei­gung gegen viele der bisherigen Nut­ze­r:in­nen. So könnte man umschreiben, was Elon Musk mit Twitter, von ihm umbenannt in X, angestellt hat, seit er es vor einem Jahr übernommen hat.

Wie war es davor? Die zehner Jahre sahen Protestbewegungen, die den Kurznachrichtendienst Twitter als Werkzeug nutzten und geprägt haben. Auf Occupy Wall Street folgten der sogenannte Arabische Frühling, Black Lives Matter, »Me Too« und zahlreichere kleinere Proteste wie die beiden deutscher Nachwuchsforschender, #IchBinHanna und #IchBinReyhan. In Millionen Timelines erklang in Echtzeit ein vielstimmiger Chor von Aktivist:innen, Politiker:innen und Zuständigen, Augenzeug:innen, Hinterbänkler:innen, Entertainer:innen und Journalist:innen.

Seit einiger Zeit gibt es einen Exodus der über Musk empörten X-Nutzer zu Bluesky Social.

Etwas Vergleichbares hatte es vorher nicht gegeben. Das hat auch Elon Musk erkannt, der seine Neuausrichtung der Plattform als weitere Demokratisierung der Öffentlichkeit verkauft. »Ich hoffe, dass Menschen überall auf der Welt Bürgerjournalismus praktizieren, damit wir wissen, was wirklich passiert, und wir Echtzeit- und Vor-Ort-Berichter­stattung haben!«, schrieb er Ende September.

Doch die sogenannten blauen Haken, mit deren Hilfe sich früher verifizierte Accounts beispielsweise von Jour­nalis­t:in­nen, Politiker:innen oder Exper­t:in­nen erkennen ließen, hat Musk radikal umfunktioniert: Nun kann jeder, der monatlich acht US-Dollar beziehungsweise 9,25 Euro bezahlt, sich einen Haken kaufen und auf diese Weise seine Reichweite erhöhen. Dieses System ist wie gemacht für Verbreiter:innen von Desinformationen und Verschwörungs­theoretiker:innen.

Bei Kurznachrichtendiensten geht es um das Verhältnis von Signal und Rauschen. Damit das Rauschen leicht, bunt und unterhaltsam bleibt, anstatt dass Hass und Schrecken das Signal übertönen, hat die Social-Media-Industrie die Content-Moderation erfunden. Diese schmutzige, ja traumatisierende digitale Care-Arbeit des Aussortierens – meist in armen Ländern angesiedelt – ermöglicht erst die scheinbare Offenheit und Spontaneität der Plattformen. Ganz draußen bleiben müssen jedoch nur wenige, denn die Grenze des Erlaubten ist all­gemein weit gesteckt: Alles, was keine Gesetze bricht und nicht die Werbekunden verschrecken könnte, kann gepostet werden.

Für die Betreiber kann es unprofitabel sein, ihre Plattformen zu streng zu regulieren. So griff Facebook 2017 kaum ein, als in Myanmar gegen Rohingya zum Genozid aufgerufen wurde. Gleichzeitig kann eine Plattform für zahlreiche Nutzer an Attraktivität verlieren, wenn sie zu schwach moderiert wird. Nicht durch das Ob, sondern das Wie der Content-Moderation unterscheiden sich die großen Plattformen heute.

Nachdem Elon Musk Twitter gekauft hatte, setzte er ein Zeichen, indem er gesperrte Nutzer, darunter bekannte Neonazis, wieder auf seine Plattform ließ. Obwohl immer mehr Werbekunden die Zusammenarbeit aufkündigten, entließ er viele der für die Regulierung der Inhalte zuständigen Angestellten.

Die bisher größte Twitter-Konkurrent Bluesky, das neue Projekt des vorherigen Geschäftsführers von Twitter, Jack Dorsey, stützt sich auf neue technische Lösungen: Es soll mehrere dezentral organisierte sogenannte Instanzen geben – separate Netzwerke, deren Nutzer allerdings miteinander interagieren können. Dieser Pluralismus der Netzwerke soll Konflikte um die Regeln der Content-Moderation überflüssig machen. Zu entscheiden, welche Instanzen sich die digitale Öffentlichkeit schließlich teilen dürfen, bleibt das Geschäft von Dorseys Firma, die das Gesamtsystem der Bluesky-Instanzen kontrolliert.

Die einzige bisher tatsächlich laufende Instanz, das Netzwerk Bluesky Social, kontrolliert Dorsey selbstverständlich selbst. Sie arbeitet intransparent und verfolgt jeden Klick ihrer Nutzer:innen, wie seit eh und je branchenüblich. ­Vielen scheint das jedoch zu reichen: Seit einiger Zeit gibt es einen Exodus der über Musk empörten X-Nutzer zu Bluesky Social. Es reicht offenbar, dass die App stark an Twitter erinnert und man seine eigene Blase wiederfindet.

Bereits seit Mitte der zehner Jahre wuchs in einer von den meisten kaum beachteten Nerd-Ecke des Internets ein anderes Kurznachrichten-Netzwerk heran: Mastodon verwirklicht den von Bluesky bisher nur versprochenen Pluralismus der Instanzen mit jeweils eigener Moderation tatsächlich. Das Netzwerk orientiert sich an der Technikutopie der gemeinschaftlich gepflegten Web-Protokolle, die nicht von einem einzelnen Eigentümer kontrolliert werden (­Internet wie früher!). Es basiert auf dem sogenannten Server Covenant von 2019, einem Manifest, dem zufolge Mastodon-Server sich zum »actively moderating against racism, sexism, homophobia and transphobia« bekennen sollen – oder ausgeschlossen werden.

Der nach unverbindlicher Gutmenschlichkeit klingende Covenant scheint der Schwierigkeit des Problems nicht ganz gerecht zu werden: Was passiert denn, wenn die – fast immer ehrenamtlichen – Moderator:innen der zuständigen In­stanz unvermeidlich irgendwann eintreffenden Hass-Schwurblern nicht die Tür weisen? Für solche Situationen erlaubt es das Mastodon-­Netz­werk, mitsamt der Followerschaft, die man aufgebaut hat, auf eine andere Instanz umzuziehen oder eine eigene zu gründen.

Diese negative Freiheit, sich stets aufs Neue gegen die Wahlheimat des eigenen Mastodon-Servers entscheiden und einfach umziehen zu können, war den Bewohner:innen und Entwickler:innen dieser digitalen Öffentlichkeit bisher wichtiger als in die Apps beispielsweise bequeme algorithmische Empfehlungsfunktionen einzubauen, die steuern, welche Posts man angezeigt bekommt. Jede neue Nutzerin muss dazu selbst Algorithmus-Dienste wie Followgraph, Fediview oder Fedibuzz entdecken.

Angesichts dessen grenzt es an ein Wunder, dass Mastodon auf weit mehr als eine Million regelmäßig aktiver Nutzer:innen weltweit anwachsen konnte, darunter von Anfang an viele aus der LGBT-Community – während die Fans von Donald Trump sich damit abfinden müssen, auf dem vom ehemaligen Präsidenten gegründeten Netzwerk Truth Social, das auf der Mastodon-Software basiert, weitgehend unter sich zu bleiben. Politisch noch weiter rechts angesiedelt ist das 2016 gegründete Netzwerk Gab, das technisch ebenfalls auf Mastodon beruht und damit wirbt, eine Plattform ohne politisch korrekte Zensur zu sein.

In den vergangenen Jahren wurden in einer Arbeitsgruppe des World Wide Web Consortium, das an der Entwicklung standardisierter Technologien im Internet arbeitet, wichtige Komponenten der Mastodon-Struktur entwickelt, dar­unter ActivityPub, ein dezentrales Pro­tokoll für soziale Medien. Die großen Internetkonzerne beteiligten sich nicht daran. Sie haben es einfach nicht kommen sehen, dass der Reputationsverlust der etablierten sozialen Medien nach dem britischen EU-Austritt, Myanmar und Trumps Wahl zum US-Präsidenten von einer Reihe Start-ups genutzt werden könnte, die mit konkurrierenden Dezentralitätsmodellen um die Herzen der Early-Adopter-Community kämpfen – und dank Elon Musk nun auch beginnen, die breite Masse der desillu­sionierten ehemaligen Twitter-Nutze­r:in­­nen zu erreichen. Aber so kam es. Auch Meta (früher Facebook) kam nicht darum herum, im Juli mit Threads einen ­eigenen Dienst in das Rennen um die Twitter-Nachfolge zu schicken, der mit geplanter ActivityPub-Anbindung für sich wirbt.

Mastodon wird bleiben und sich weiterentwickeln, da keine Shareholder-­Interessen befriedigt werden müssen. Welche der konkurrierenden Plattformen sich als Twitter-Nachfolger durchsetzen wird, bleibt hingegen offen. Dass Elon Musks X, weil es bereits etabliert ist, wichtig bleiben wird, ist vorstellbar – aber auch, dass es den Weg von Myspace geht, das einst das wichtigste soziale Medium war und heute fast vergessen ist.