Die Angriff in Hamburg steht in einer Reihe mit den Attentaten von Halle und Hanau

Irritierendes Desinteresse

Der Amoktäter von Hamburg hinterließ ein Buch, das vor Frauenfeindlichkeit strotzt und antisemitische Passagen enthält. Doch in der Öffentlichkeit wird die Tat entpolitisiert, die Solidarität mit den Opfern ist auffallend zurückhaltend.
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Sechs Erwachsene und ein ungeborenes Kind sind tot. Ermordet in den Abendstunden des 9. März während eines Gottesdienstes der Zeugen Jehovas in Hamburg, als der Täter das Feuer auf die anwesenden Gemeindemitglieder eröffnete. Schnell stellte sich heraus, dass der Täter, der bei Anrücken der Polizei Suizid beging, ein 35jähriger Mann war, der seine Ideen in einem selbstverlegten Buch dargelegt hatte. Es trug den Titel »Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan: Eine neue reflektierte Sicht von epochalen Dimensionen« und strotzte von Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus. Hitler wird darin als Werkzeug Jesu Christi dargestellt.

Damit lag und liegt der Verdacht nahe, dass die Tat sich in die Serie jener massenmörderischen Anschläge weltweit einreiht, die spätestens mit den Morden Anders Behring Breiviks 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya ihren Anfang nahm. Diese Taten sind davon gekennzeichnet, dass die individuell agierenden Täter auf Basis einer faschistischen Privatideologie handeln, die sie sich vor allem aus Internetquellen zusammengestellt haben.

Als Krieger beziehungsweise Rächer sehen diese Täter sich berufen, jene zu bestrafen und auszulöschen, denen sie die Schuld daran geben, dass die Welt nicht ihren Vorstellungen entspricht. Weil die Ideen der Täter so wahnhaft sind, werden ihre Taten oft als Ausdruck einer psychischen Störung interpretiert. In Deutschland gehören die Anschläge von München 2016, Halle 2019 und Hanau 2020 zu dieser Form politischer Gewalt.

Es besteht zumindest der Verdacht, dass sich in Hamburg ein weiterer derartiger Anschlag ereignete. Deshalb wären eigentlich politische Debatten über den Charakter der Tat und Gesten der Solidarität mit den Opfern zu erwarten gewesen. Stattdessen dominierten Empathielosigkeit und Desinteresse. Neben der Frage des Waffenrechts und etwaiger Ermittlungsfehler der Hamburger Polizei vor der Tat galt das Interesse der meisten Medien der Frage: Wer sind die Zeugen Jehovas?

Die von strengen Moralgesetzen und einem endzeitlichen Glauben geprägte Religionsgemeinschaft wurde zumeist als autoritäre und abgeschottete Gemeinschaft beschrieben, als Sekte. Da der Täter für kurze Zeit Mitglied der Zeugen Jehovas war, wurde die Frage gestellt, ob damalige Konflikte eine Rolle für die Tat gespielt haben könnten. Dass dies den überlebenden Opfern eventuell als Täter-Opfer-Umkehr erscheinen könnte, wurde soweit ersichtlich nirgends thematisiert.

Irritierend ist das Schweigen linker und antirassistischer Aktivis­t:innen, Gruppen, Organisationen.

Kaum Widerspruch erregte zudem ein Gutachten, das der Extremismusforscher Peter Neumann im Auftrag der Hamburger Polizei vorlegte und über das der Spiegel berichtete. Demnach seien die Morde die Tat eines »religiösen Fanatikers« und entbehrten eines politischen Hintergrunds. Dabei ist Neumanns Argumentation zumindest in Teilen zweifelhaft. So schreibt er, dass viele Forderungen des Täters dem widersprächen, »was man von einem ideologisch orientierten Rechtsextremen erwarten würde«. So spreche der Täter sich etwa für eine Annäherung zwischen Christentum und Islam aus. Dabei teilt er gerade diese Vorstellung mit nicht wenigen Rechtsextremen und auch einigen Islamisten.

Irritierend ist das Schweigen linker und antirassistischer Aktivis­t:innen, Gruppen, Organisationen. Waren sie es doch gerade, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Erinnern an die Opfer politischer Gewalt und Möglichkeiten der Solidarität mit den Betroffenen beschäftigt und stets die Entpolitisierung derartiger Taten durch Ermittlungsbehörden und Justiz kritisiert haben.

Der Verdacht liegt nahe, dass in diesem Fall nicht die Aufklärung und Überprüfung der polizeilichen und juristischen Einschätzung verlangt wird, weil sich mit ermordeten Zeugen Jehovas keine Politik machen lässt. Dabei gilt daran festzuhalten: Sieben Menschen wurden in Hamburg getötet. Wenn jener gedacht wird, die den in Richtung Barbarei weisenden Zerfallstendenzen dieser Gesellschaft zum Opfer gefallen sind, sollte auch an ihre Namen erinnert werden.