In der Türkei fanden Proteste zur Unterstützung des iranischen Aufstands statt

Protest im Nachbarland

In der Türkei kam es bei Demonstrationen zur Unterstützung der Proteste im Iran zu Festnahmen. Oppositionelle ziehen Parallelen zwischen der Situation im Iran und der Politik Präsident Erdoğans.

»Heute singe ich für alle Frauen«, sagte die Jazz-Sängerin Melek Mosso bei einem Konzert in Istanbul vergangene Woche und schnitt sich aus Solidarität mit der Iranerin Jina Mahsa Amini zwei Haarsträhnen ab. Der Saal tobte vor Begeisterung. In mehreren großen Städten in der Türkei demonstrierten in den vergangen Wochen Frauengruppen, um die iranischen Frauen zu unterstützen.

Vielen Politikern und Politikerinnen der Türkei fiel es indessen schwer, die Ereignisse im Nachbarland einzuordnen. Am leichtesten hatte es die prokurdische HDP, die feministische Positionen vertritt. Seit langem werden in der HDP alle Ämter mit einer Frau und einem Mann doppelt besetzt. Außerdem war Mahsa Amini Kurdin. Der seit 2016 wegen kritischer Reden, die ihm als Terrorismusunterstützung ausgelegt wurden, inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, rasierte sich den Kopf als Geste der Solidarität mit Amini. Desgleichen tat der inhaftierte ehemalige Bürgermeister von Diyarbakır, Adnan Selçuk Mızraklı. Dazu schrieb Demirtaş: »Alle auf Unterdrückung und Tyrannei gestützten Systeme kollabieren früher oder später – ich grüße diejenigen, die Widerstand leisten.« Damit meinte er sicher nicht nur den Iran.

 Im kurdischen Diyarbakır verhinderten die Behörden eine Demonstration.

Meral Akşener, die Vorsitzende der rechtsnationalistischen İyi Parti (Gute Partei), die mit der Regierungspartei AKP um Wähler konkurriert, gab eine Solidaritätsadresse für die Iranerinnen ab. »Für die Sultane und ihre korrupte Entourage hat die Stunde geschlagen«, sagte sie, wobei »Sultan« natürlich auch auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zielte, der zwar kein Sultan ist, sich aber mit seinem Palast so gebärdet.

Eigentlich wären Demonstrationen gegen Schleierzwang und religiöse Bevormundung auch die Stunde der Säkularisten und Säkularistinnen in der Türkei. Vereinzelt werden solche Parallelen durchaus gezogen, aber die dem Säkularismus in der Prägung Atatürks verpflichtete größte Oppositionspartei, die CHP, ist erstaunlich ruhig geblieben. In knapp einem Jahr sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Aufgrund seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik besteht durchaus die Chance, dass Erdoğan abgewählt wird. Spitzenkandidat der Oppositionsparteien könnte der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu werden.

Unterstützt die CHP das Aufbegehren gegen den Schleierzwang im Iran zu sehr, so könnte Erdoğan den Spieß umdrehen und sie an die Kopftuchverbote in der Türkei erinnern. Beamtinnen, Schülerinnen und Studentinnen durften in der Türkei ihr Haupt lange Zeit nur im Privatleben verhüllen. Studentinnen mit Kopftuch wurden entweder bereits beim Betreten der Universität abgefangen oder zumindest nicht zu Prüfungen zugelassen. In der Regel ließ man sie aber durch, wenn sie sich eine Perücke überstülpten. Eine so gewendete Kopftuchdebatte könnte Erdoğan helfen, die bröckelnden Reihen seiner Unterstützer gegen die säkularistische Minderheit zu schließen.

Doch auch ohne dass die CHP den Finger auf die Wunde legt, haben Erdoğans Unterstützer Schwierigkeiten mit den Ereignissen, schließlich sind in ihrem Weltbild die Unterdrückten immer die konservativen Muslime. In der Zeitung Yeni Şafak (Neue Morgenröte), die Erdoğans AKP sowohl ideologisch als auch aufgrund der Geschäftsinteressen ihres Eigentümers, der Albayrak Holding, eng verbunden ist, musste der Journalist Yusuf Kaplan deshalb einiges zurechtrücken. Den Tod von Mahsa Amini thematisierte er nicht eigens, die Demonstrationen danach seien inszeniert. In dem auch von Erdogan gepflegten Stil, sich in Andeutungen zu ergehen, schreibt er von einer »Operation«. Doch dort, wo die Leser eine Intrige des Westens, der USA oder Israels erwarten, kommt eine unerwartete Kehrtwendung: »Westler« würden den Iran nicht hassen, klärt Kaplan auf. Das »globale System« bzw. Israel hätten keinen Grund dazu, denn der schiitische Islam sei seit Jahrhunderten »die Vorhut und Wache« gegen die sunnitische Welt und die Türkei installiert. Kaplan bietet zwei Erklärungen, warum der Westen, bzw. Israel dennoch Unruhe in Iran stifteten: Einmal wollten sie Iran dadurch als Opfer ihrer Politik erscheinen lassen und in den Augen der Muslime weltweit aufwerten. Zum anderen sei es eine Drohung, um die Politik Irans in ihrem Sinne ein kleines bisschen zu justieren.

Damit hatte Kaplan das Kunststück fertiggebracht, die bösen »Westler« sowohl für das iranische Regime als auch für den Aufruhr gegen dieses verantwortlich zu machen. Dahinter steckt die Sorge, die Proteste in Iran könnten auch den Blick auf Erdoğans Politik beeinflussen. Zuletzt hat dieser mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt im März 2021 viele Frauen gegen sich aufgebracht. Deshalb ziehen einige bei den Demonstrationen nun auch Parallelen zwischen der Situation im Iran und in der Türkei. Entsprechend hart ging die Polizei am Wochenende gegen Demons­trantinnen vor. In Ankara, Mersin und Samsun wurden viele Frauen festgenommen, im kurdischen Diyarbakır verhinderten die Behörden eine Demonstration. Doch acht weitere Demonstrationen, davon zwei in Istanbul, blieben unbehelligt. Offenbar ist irgendwo die Entscheidung gefallen, die Repression nur langsam zu verschärfen.