Die Türkei profitiert vom Ukraine-Krieg

Der scheinbar ­unverzichtbare Partner

Im Ukraine-Konflikt profitiert die Türkei erneut von ihrer strategischen Bedeutung für die westlichen Staaten. Den Preis zahlen wieder einmal türkische Demokraten und die Kurden im Norden des Irak und Syriens.
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Die türkischen Angriffe auf Kurden und Yeziden im Nordirak sowie in Teilen Nordsyriens erfolgen nicht nur »im Schatten des Ukraine-Kriegs«, wie es in der spärlichen Berichterstattung dazu oft heißt. Das Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist vielmehr in mehrfacher Hinsicht mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine verknüpft. Denn der türkische Machthaber sieht sich nun in einer strategischen Schlüsselrolle für den Westen.

Dabei hat sich Erdoğans Regime geschickt angestellt, indem es einerseits als Nato-Mitglied gegen Russlands Aggression Stellung bezog und kurz nach Kriegsbeginn russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch den Bosporus verwehrte. Gleichzeitig erhielt es die guten Verbindungen zum russischen Regime aufrecht, verzichtete auf wirtschaftliche Sanktionen und suchte sich als Vermittler zwischen den Kriegsparteien zu profilieren.

Politiker westlicher Länder, allen voran deutsche, reagierten geradezu euphorisch. Dabei dürfte von vornherein klar gewesen sein, wer den Preis zu zahlen haben würde: die demokratischen und dissidenten Kräfte innerhalb der Türkei. Ein Istanbuler Gericht verurteilte am 25. April den bereits seit vier Jahren inhaftierten Kulturförderer Osman Kavala am Ende eines absurden Schauprozesses wegen eines angeblichen Umsturzversuchs durch Anstiftung der Gezi-Proteste 2013 zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen, seine Mitangeklagten erhielten ebenfalls horrend lange Haftstrafen. Wer gemeint hatte, das außenpolitische Auftreten Erdoğans könnte mit einer Mäßigung der innenpolitischen Repression einhergehen, sah sich dieser Illusion beraubt.

Die Regimes in Russland und der Türkei ähneln sich nicht nur in der brutalen Exekution ihrer Machtansprüche, sondern auch in der Struktur der Ideologie, auf die sich ihre jeweilige Racket-Herrschaft stützt. Der von Erdoğan und seiner Machtclique vertretene »Neoosmanismus« stellt ähnlich wie der von den ideologischen Stichwortgebern des russischen Präsidenten Wladimir Putin vertretene »Neu-Eurasianismus« eine Mischung völkisch-nationalistischer und imperialer Ideologie mit missionarischen Aspirationen dar. Der »Neoosmanismus« ist aus dem türkischen Islamismus der Millî-Görüş-Bewegung um Erdoğans politischen Ziehvater Necmettin ­Erbakan hervorgegangen und nahm Elemente des rechtsextremen Nationalismus der Grauen Wölfe auf.

Ähnlich dem Neu-Eurasianismus handelt es sich auch bei diesem als »türkisch-islamische Synthese« gehandelten Gebräu um eine antimodern aufgeladene kulturalistisch-identitäre Ideologie, deren Aggressivität auf eine narzisstische Kränkung durch den Niedergang eines Großreichs zurückgeht. Nicht zufällig ist der Neoosmanismus auch von antisemitischen Verschwörungsmythen durchzogen; nach der Verurteilung Kavalas wiederholte Erdoğan die Behauptung, dieser habe die Gezi-Proteste im Auftrag des jüdischen Investors George Soros angestiftet. Innenminister Süleyman Soylu hatte Soros Mitte März vor dem Türkei-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz gar für den Ukraine-Krieg verantwortlich gemacht.

Die Geschichte der modernen Türkei durchzieht ein staatlicher Autoritarismus, der sich immer repressiv gegen Minderheiten wie Armenier, Kurden und Aleviten sowie alle demokratischen und linken Kräfte der Gesellschaft richtete. Ebenso beständig opferte die westliche und insbesondere deutsche Türkei-Politik die Interessen oder sogar die Existenz dieser Gruppen den eigenen Machtinteressen. Das begann mit der Komplizenschaft des wilhelminischen Kaiserreichs beim Genozid an den Armeniern, setzte sich im Kalten Krieg nach den Militärputschen von 1971 und 1980 mit der Unterstützung des Folter- und Militärregimes als Nato-Partner fort und führte in den neunziger Jahren zur stillschweigenden Unterstützung des Kriegs gegen die Kurden, im vergangenen Jahrzehnt dann zum Flüchtlingsabkommen mit Erdoğans Regime trotz der umfassenden Repression nach den Gezi-Protesten sowie zur Hinnahme des völkerrechtswidrigen türkischen Einmarschs in Nordsyrien. Nun verschafft Putins Krieg Erdoğan erneut eine für den Westen unverzichtbar scheinende Position.

Es wirkt fast so, als seien die demokratischen und linken Kräfte der Türkei sowie Minderheiten wie die Kurden von Deutschland und anderen westlichen Staaten dazu verdammt, ewig die Rolle des Kollateralschadens ihrer Türkei-Politik zu spielen. Linke sollten sich damit nicht abfinden und alle Opfer von Repression und militärischer Aggression des türkischen Regimes nach Kräften unterstützen – nur ist davon derzeit nicht viel zu sehen. Das groteske Urteil gegen Kavala, dem einer der Richter bei der Urteilsverkündung auch sein Engagement für Armenier und Kurden vorhielt, sollte endlich Anlass geben, gegen die erneute Kungelei mit Erdoğans ­Regime ein Bündnis zur Unterstützung aller demokratischen und emanzipatorischen Kräfte in der Türkei aufzubauen. Der kosmo­politisch-liberale und demokratisch gesinnte Citoyen Osman Kavala könnte dabei eine Symbolfigur sein.