Hilfsorganisation Cap Anamur

Flucht aus Vietnam

Vor 40 Jahren lief das Rettungsschiff Cap Anamur zum ersten Mal aus. Der gleichnamigen Organisation verdanken Tausende Flüchtlinge aus Vietnam ihr Leben.

Vor 40 Jahren legte das Schiff Cap Anamur in Japan ab und nahm Kurs auf Singapur und das südchinesische Meer, das zwischen Vietnam, Malaysia, China, Brunei, Indonesien und den Philippinen liegt. Dort trieben zu jener Zeit zahlreiche überfüllte Holzboote mit Menschen, die aus Vietnam geflüchtet waren. Ziel des Schiffs und seiner Besatzung war es, Menschen aus Seenot zu retten.

Ende der siebziger Jahre war Vietnam durch die französische Kolonialherrschaft, durch jahrzehntelange Kriege, durch Zerstörung und Verarmung gezeichnet. Nach dem Ende des Kriegs 1975 und dem Sieg des nordvietnamesischen Regimes verließen viele Menschen das Land. Zur Flucht trieben sie dem Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha zufolge mehrere mit­einander verflochtene politische, ökonomische, ethnisch-kulturelle und ­familiäre Gründe: Politische Repression, antikommunistische Aversionen, Verelendung und Enteignung, der Wunsch nach Familienzusammenführung und die Verfolgung von Minderheiten, etwa der chinesischsprachigen.

Schätzungen zufolge flohen zwischen 1976 und 1986 etwa 1,5 Millionen Menschen, viele von ihnen über das Meer. Die Gefahren auf See waren groß, es gab Unwetter sowie Überfälle und Vergewaltigungen durch Banden und ­Fischer. Zwischen 200 000 und 500 000 Menschen kamen bei ihrem Versuch, Vietnam per Boot zu verlassen, durch Havarien, Nahrungs- und Wassermangel, Piratenangriffe oder Krankheiten ums Leben.

Der deutsche Journalist Rupert Neudeck und der Schriftsteller Heinrich Böll gründeten im Januar 1979 die Organisation »Ein Schiff für Vietnam«, die sich später in »Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte« (Cap Anamur) umbenannte. Sie charterten den ehemaligen Frachter »Cap Anamur« und bauten ihn zu einem Hospitalschiff um. Zuvor war Neudeck in Frankreich gewesen, um den Philosophen Jean-Paul Sartre zu ­interviewen. Dort erfuhr er von der Gründung des Komitees »Un bateau pour le Vietnam« durch den Philosophen André Glucksmann und den Arzt und Politiker Bernard Kouchner, die er unbedingt unterstützen wollte. Die »L’Ile de Lumière« war das erste Rettungsschiff und die »Baie de Lumière« das zweite. Die deutsche Öffentlichkeit nahm diese beiden Schiffe und deren Mission jedoch kaum wahr und in Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht in Vietnam, flossen die Spendengelder nur spärlich.

Anders in Deutschland: Im Juli 1979 stellte Neudeck das Vorhaben im ARD-Magazin Report vor. Der Moderator Franz Alt nannte die Bankverbindung des Komitees. »Innerhalb einer Woche waren 1,2 Millionen D-Mark auf dem Konto«, erinnert sich Christel Neudeck, die Witwe von Rupert. Die Sozialpädagogin war ebenfalls Mitbegründerin, managte den Verein und kümmerte sich um die Buchhaltung. »14 Jahre lang war die Zentrale in unserem Wohnzimmer in Troisdorf, dann gab es ein kleines Büro in Köln«, sagt Christel Neudeck der Jungle World. Viele Jahre sei die Arbeit ehrenamtlich geleistet worden, ermöglicht durch das Redakteursgehalt und die flexiblen Arbeitszeiten ihres Mannes beim Deutschlandfunk.

 

Auch heutzutage arbeitet lediglich ein kleines Team von fünf Angestellten in der Kölner Geschäftsstelle, der Vorstand ist ehrenamtlich tätig. Cap Anamur zählt zu den kleinen bis mittleren Nichtregierungsorganisationen. Über drei Millionen Euro wurden im vergangenen Jahr gespendet. Im Gegensatz zu den großen Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt oder Caritas International ­finanziert sich Cap Anamur ausschließlich über private Spenden und nicht durch staatliche Gelder der Katastrophenhilfe und der Entwicklungszusammenarbeit. »Das ist unser Vorteil, das macht uns in unseren Planungen frei«, sagt Franziska Bähr, die Sprecherin der Hilfsorganisation, der Jungle World. Zudem verzichte die Organisation weitgehend auf bezahlte Werbung. In den vergangen 40 Jahren seien 1 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsendet, 25 Millionen Patienten behandelt, beim Bau von 250 Krankenhäuser und 70 Schulen geholfen worden.

Bis heute wird die Organisation mit der Seenotrettung in Verbindung ­gebracht. Dabei betreibt Cap Anamur in erster Linie Gesundheits- und Bildungsprojekte an Land, in Uganda und dem Sudan, in Afghanistan, Nepal, Nordkorea und anderen Ländern. Ein eigenes Schiff besitzt die Organisation schon lange nicht mehr. Sie beteiligt sich auch nicht wie Sea-Watch oder Lifeline an der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer. Nach dem Charter der »Cap Anamur« vor 40 Jahren und einer langen Pause wurde erst 2004 ein weiteres Rettungsschiff entsandt. Es war jedoch nicht lange im Einsatz: Noch im gleichen Jahr wurden der damalige Vorsitzende Elias Bierdel und der Kapitän Stefan Schmidt in Italien festgenommen und wegen Beihilfe zu illegaler Einreise angeklagt. Die »Cap Anamur« hatte 37 Menschen vor dem Ertrinken gerettet und in Porto Empedocle auf Sizilien an Land gebracht, nachdem der Kapitän zuvor eine Notlage an Bord gemeldet hatte. Christel Neudeck möchte sich dazu nicht äußern, nur dass es sehr teuer und aufwendig war, räumt sie ein.

»Die Sache hat Narben hinterlassen«, sagt auch Bähr. Erst im Jahr 2009 folgte ein Freispruch, da Seenotrettung als internationale Seerechtsverpflichtung nach nationalem Recht nicht strafbar sein kann – was übrigens in den Prozessen gegen die unzähligen Fischer und unbekannten Retter aus Tunesien, Italien oder Griechenland nicht zu gelten scheint, ­deren Fälle in den Medien nicht präsent sind. Sie werden oft nicht freigesprochen, sondern zu teils langen Haftstrafen verurteilt. Der Prozess und die ­Beschlagnahmung des neu umgebauten Hospitalschiffes kostete die Organi­sation Millionen. »Wir wollen Flüchtlingen helfen«, betont Bähr, »aber heute tun wir das an Land, etwa im Libanon oder in Somalia.«

Die Seenotrettung der »Cap Anamur« von insgesamt 11 000 Menschen zwischen 1979 und 1987 aus Vietnam gilt als großer Erfolg. Doch häufig wird übersehen, wie hart er erkämpft wurde. »Es war nicht ungünstig, dass Rupert ein solcher Sturkopf war«, sagt Christel Neudeck. Nirgends waren die sogenannten Boatpeople aus Vietnam willkommen. Ähnlich wie heutzutage die Anrainer des nördlichen Mittelmeers wollten Malaysia und Indonesien die Neuankömmlinge nicht aufnehmen. Sie wurden in mit Stacheldraht umzäunte Lager gepfercht oder sogar mit ihren Booten zurück auf das Meer ­geschleppt.

 

Auch in Deutschland gab es Kritik an der Arbeit der Retter – ähnlich wie heute. Die zivile Seenotrettung bewirke einen Sog­effekt, eine Zunahme von geflüchteten Menschen, lautete auch damals schon das Argument. Es gab Widerstände gegen die Aufnahme der Geflüchteten – aber auch Zustimmung, sei es aus antikommunistischer, sei es aus christlicher oder humanitärer Motivation.

Als Reaktion auf die humanitäre Aufnahme der Boatpeople erließ die Bundesregierung ein neues Gesetz. Ab 1980 erhielten in Westdeutschland die sogenannten Kontingentflüchtlinge, ohne Asylverfahren eine Aufenthalts- und Arbeitsgenemigung. Bis 1985 wurden fast 30 000 Menschen aus Vietnam nach diesem Gesetz aufgenommen.

Doch es gab auch weiterhin Ablehnung bis hin zu rassistischen Attacken. Im August 1980 warfen die rechts­terroristischen Deutschen Aktionsgruppen einen Brandsatz auf ein Wohnheim in der Hamburger Halskestraße ­(Jungle Word 35/2014). Der Lehrer Ngoc Nguyên aus Saigon war nur wenige Monate zuvor mit Hilfe von Cap Anamur nach Hamburg gekommen. Er und sein Zimmergenosse Anh Lân Dô starben an den Brandverletzungen. Gleichzeitig war die Hilfsbereitschaft groß: 20 Millionen D-Mark wurden über die Jahre für Cap Anamur gesammelt. »Unsere Aktion ist nie gescheitert, weil wir kein Geld mehr hatten, sondern weil die Aufnahmezusagen fehlten«, sagt Christel Neudeck. Die Geflüchteten durften in Malaysia, auf den Philippinen oder in Indonesien nur dann abgesetzt werden, wenn die Organisation eine feste Aufnahme­zusage von dritten Staaten vorweisen konnte, in die die Menschen dann ausgeflogen wurden.

Mit jedem Land musste einzeln ausgehandelt werden, wo und wie viele Geflüchtete aufgenommen wurden. »Die fehlenden Zusagen waren auch der Grund, warum wir 1982 mit 300 Geflüchteten an Bord bis nach Hamburg fuhren«, berichtet Christel Neudeck. Cap Anamur hatte keine Aufnahmezusage für die Menschen, aber die Zuversicht, dass mit Hilfe der Medien, Bildern von winkenden Schulkindern und engagierten Ehrenamtlichen eine Auf­nahme erzwungen werden könnte. Man stelle sich vor, die Kapitänin der »Sea-Watch 3«, Carola Rackete, würde heutzutage mit 53 geretteten Menschen in Hamburg einlaufen und am Terminal des Cruise Center festmachen.