Wahrscheinlichkeitsrechnung und wie die Rente zum Glücksspiel wird

Glücksspiel Rente

Backgammon ist kein Glücksspiel, nicht so sehr jedenfalls wie zum Beispiel die Prognosen von Versicherungsgesellschaften.

»Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.« Dieser bei jeder Nennung des Begriffs Statistik obligatorisch mitzuerwähnen­de Ausspruch wird gemeinhin Winston Churchill zugeschrieben. Nach Recherchen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg vom November 2004 ist die Herkunft jedoch ungeklärt, das Zitat in Großbritannien weitgehend unbekannt und Winston Churchill als Urheber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Dem weit verbreiteten Misstrauen gegenüber statistisch begründeten Aussagen, insbesondere zu gesellschaftlichen Fra­gestellungen, tut dies allerdings keinen Abbruch.

Statistik wird üblicherweise in die Bereiche deskriptive und induktive oder Inferenzstatistik unterteilt. Erstgenannte befasst sich mit der Zusammenfassung und Beschreibung von bekannten Daten durch Begriffe wie »Mittelwert« und »Standardabweichung«. Zu den Anwendungsgebieten gehören Statistiken zur Arbeitslosigkeit oder die Aufzeichnung von Wetterdaten. Die Inferenzstatistik hingegen verfolgt das Ziel, in Stichproben Muster zu erkennen und hieraus Rückschlüsse auf Eigenschaften der Gesamtpopulation zu ziehen, für die die untersuchten Daten repräsentativ sind. Anwendungsbeispiele hierfür sind Meinungs­umfragen und Studien zur Marktforschung.
Die der modernen Statistik zugrunde liegende Wahrscheinlichkeitsrechnung genoss über lange Zeit keinen guten Ruf. Aristoteles beispielsweise war der Auffassung, dass der Zufall sich grundsätzlich der wissenschaftlichen Erkenntnis entziehe. Im europäischen Mittelalter stand die Kirche der wissenschaftlichen Untersuchung von Wahrscheinlichkeiten ablehnend gegenüber, und selbst unter Mathematikern war es lange umstritten, ob die Wahrscheinlichkeitsrechnung als Teilgebiet der Mathematik gelten könne, welche sich als eine Wissenschaft der eindeutig verifizierbaren oder falsifizierbaren Aussagen verstand. So formulierte noch Bertrand Russell, Nobelpreisträger und Co-Autor des Grundlagenwerks »Principia Mathematica« von 1910: »Wie können wir nur von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sprechen? Ist Wahrscheinlichkeit nicht die Antithese zu jeglichem Gesetz?« Erst 1933 stellte der Russe Andrej Kolmogorow in seinem Lehrwerk »Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung« eine zufriedenstellende axiomatische Fassung der Wahrscheinlichkeitstheorie vor.
Allerdings belegen etwa 5 000 Jahre alte Würfelfunde aus dem Iran, dass Menschen sich schon ziemlich lange mit der Manipulation von Wahrscheinlichkeiten befassen. Die Fertigung idealer Würfel, bei denen alle Seiten mit annähernd der gleichen Häufigkeit oben landen – im Gegensatz zu asymmetrisch geformten Steinen oder Tierknochen, wie sie in der Antike für Spiele und in Orakeln häufig verwendet wurden –, setzt eine zumindest rudimentäre Auseinandersetzung mit diesem Thema voraus. Karten- und Würfelspiele sollten auch später wesentlich zur Entwicklung der wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitsrechnung beitragen, als deren Geburtsstunde gemeinhin ein Briefwechsel aus dem Jahr 1654 zwischen den Gelehrten Blaise Pascal und Pierre de Fermat über ein Würfelproblem gilt.

Für passionierte Spieler sind auf Wahrscheinlichkeiten basierende Berechnungen optimaler Strategien selbstverständlich. Backgammonspieler beispielsweise machen sich den Umstand zunutze, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Würfelergebnissen bekannt ist. Jeder Wurf mit zwei Würfeln hat 36 mögliche Ausgänge (sechs mal sechs). Die Wahrscheinlichkeit eines Paschs liegt bei 1/6 (sechs mögliche Päsche aus 36 Würfen). Die verbleibenden 30 Würfe kommen jeweils zweimal vor (die Kombination 6-1 ist im Spiel identisch mit 1-6), so dass die Anzahl der voneinander verschiedenen Würfelergebnisse bei 21 liegt, von denen 15 jeweils doppelt so wahrscheinlich sind wie die verbleibenden sechs. Aus dieser Verteilung lassen sich die Wahrscheinlichkeiten für alle möglichen Ereignisse auf dem Spielfeld herleiten. So kann der Spieler eine Strategie wählen, die zwar nicht mit Sicherheit zum Erfolg führt, aber seine Gewinnerwartung maximiert.
Versicherungen bedienen sich bei ihren Kalkulationen recht ähnlicher Prinzipien, nur dass die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse nicht anhand der bekannten Eigenschaften von Würfeln bestimmt wird, sondern anhand von Ableitungen aus Statistiken über bereits vergangene Ereignisse. Bei einer privaten Rentenversicherung beispielsweise berechnen sich die monatlichen Auszahlungen aus dem für die versicherte Person angesparten Kapital und der statistisch zu erwartenden Restlebensdauer. Da Frauen nach bisherigen Erhebungen im Durchschnitt länger leben als Männer, zahlen ihnen die Versicherer bei gleichen Beiträgen eine geringere monatliche Rente.
Abgesehen davon, dass viele Menschen diese Praxis als diskriminierend empfinden, ist sie ein gutes Beispiel für die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffe, die Spieler und Versicherungs- oder Finanzmathematiker verwenden. Bei Würfelspielen sind die objektiven Wahrscheinlichkeiten bekannt. Wegen der beliebigen Wiederholbarkeit eines Würfelwurfs ist die Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Ereignisses als relative Häufigkeit des Eintretens eindeutig zu definieren und lässt sich empirisch leicht überprüfen. Bei Wetten auf historische Ereignisse – und eine Rentenversicherung ist im Prinzip nichts anderes – ist diese Wiederholbarkeit nicht gegeben. Die genaue Verteilung des Sterbealters für die Versicherten eines bestimmten Jahrgangs ist erst bekannt, wenn es für den Abschluss von Rentenversicherungen zu spät ist.
Die Versicherer haben bei ihren Berechnungen kaum eine andere Wahl, als den in den Daten der vergangenen Jahrzehnte festzustellenden Trend zum langsamen, aber stetigen Anstieg der Lebenserwartung für die Zukunft fortzuschreiben. Dass derartige Prognosen aus den Daten der Vergangenheit nicht immer zutreffend sein müssen, zeigt anschaulich die derzeitige Immobilienkrise in den USA, wo die Möglichkeit eines plötzlichen allgemeinen Wertverfalls der Häuser und Grundstücke in der Praxis der Kreditvergabe unzureichend berücksichtigt wurde.

Doch auch die methodisch eher bodenständige Ableitung von Zusammenhängen aus gesicherten statistischen Daten muss zumindest für den Statistiker selbst nicht unbedingt von Vorteil sein. Der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis ­erkannte 1848 den Zusammenhang zwischen der exorbitanten Sterberate von Patientinnen in seiner Geburtshilfestation und der Praxis der dort arbeitenden Ärzte und Medizinstudenten, sich nach Leichensektionen nicht die Hände zu waschen oder zu desinfizieren. Durch die Einführung strenger Hygienevorschriften gelang es Semmelweis, die Mortalität von schwindelerregenden 12,3 auf 1,3 Prozent zu senken. Seine Ärztekollegen weigerten sich jedoch schlichtweg, den statistischen Befund anzuerkennen, und mob­bten Semmelweis 1849 aus seiner Stellung. Er wurde 1855 Professor für Geburtshilfe an der Universität von Pest in Ungarn, wo er seine Erkenntnisse 1861 in einem Buch veröffentlichte. 1862 drohte er in einem offenen Brief, die geburtshelfenden Ärzte wegen ihrer Weigerung, seine Hygienevorschriften anzuwenden, öffentlich als Mörder anzuprangern. Semmelweis erkrankte psychisch und wurde 1865 auf Anweisung dreier Ärzte ohne Befund in eine Irrenanstalt eingeliefert, wo er zwei Wochen später nach einem Kampf mit dem Klinikpersonal starb, vermutlich an einer Blutvergiftung.