»Der Song, der mein Leben veränderte«

»Well, C’mon-Mmm-Uh!«

23 Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten aus ihrem Leben und davon, welche Rolle ein Musikstück darin spielte. Teil II eines zweiteiligen Dossiers.

Bacherl­warme ­bevollmondete Julinacht

In einer bacherlwarmen Julinacht mitte der neunziger war ich in meinem Gartenhäuserl am Endmoränenhang zu 82 284 Wildenroth mit dem Gedicht »’s ist Mitternacht, Mutter!« (einem Juwel auf meiner CD »Interessieren Sie sich für Sexualität«, Tiamat Berlin, 2005) durch. Ees war so gegen zwei Uhr und am Himmel herrschte Vollmond. Ich packte ins Lenkertascherl meines Rennradls den japanischen Recorder und die zwei Kassetten »Tommy« von »The Who«. In den Rucksack tat ich drei Flaschen AugustinerHell. Dann giengs (außerhalb der Ortschaft war Roger Daltrey loudly present!!!) über die natürlich ausgeleuchtete Landstraße Erster Ordnung um den Ammersee rum (Kottgeisering, Eching, Schondorf, Diessen, Fischen, Herrsching, Inning), rund fünfzig Km, bis ich, bei Sonnenaufgang und wieder in Wildenroth, archivieren durfte:

Gebenedeit seiest Du, Du bacherl­warme bevollmondete oberbayerische Julinacht

In welcher sowohl das Gedicht »’s ist ­Mit­ternacht, Mutter!« wie die treibstoff­ge­stütz­te sowie von der Rezeption der RocknRollOper »Tommy« assistierte Umrundung des Ammerseees ward vollbracht

horst tomayer

 

Ausrasten

Es war das Jahr, in dem Detlev Carsten Rohwedder ermordet wurde, Serge Gainsbourg starb und die Sowjetunion aufhörte zu existieren. 1991 war das letzte Jahr, in dem ich noch als nicht volljährig galt. Ich wollte es wissen. Bevor ich volljährig wurde, musste noch was passieren. Ich wechselte nach sechs Jahren die Schule und verließ das schmucke Taunusstädtchen mit seinen drei Skatern, um in der Autostadt am Main zu landen.

Es war das Jahr, in dem sich in Hoyerswerda die Wahrheit des wiedervereinigten Deutschlands zeigte. Es war das Jahr der Operation »Desert Storm«. Es war das Jahr, in dem mein Pass mit dem roten Stern seine Gültigkeit verlor und ich neue Personaldokumente von einem neuen Staat erhielt, die ich gar nicht haben wollte. Es war das Jahr, in dem eine Band namens Blumfeld von sich reden machte und als Nachfolgerin von Ton Steine Scherben und Fehlfarben gehandelt wurde.

Und dann passierte es. Es war »the year that punk broke«, und jemand überspielte mir das Lied »Smells like teen spirit« auf Cassette. Ich rastete aus. »She’s overboard.« Das war es! »Load up on guns.«

Im Jahr darauf spielte im örtlichen alternativen Kulturcafé die mit Spannung erwar­tete Band Blumfeld. »Von der Unmöglichkeit, Nein zu sagen, ohne sich umzubringen«. Ich, meine Freunde und der Rest des Publikums standen herum und verstanden nichts. Es rockte nicht. Wir gingen ins besetzte Jugendzentrum »Planlos« und hörten Nirvana: »I feel stupid and contagious«. Wir rasteten aus.

Kurze Zeit später nahm ich an einem Schü­leraustausch teil und reiste nach England. Es gab gefrorene Erbsen, es regnete, meine Gastgeberin ging um neun Uhr schla­fen, und die einzige Popveranstaltung, die wir besuchten, war eine stinklangweilige Londoner Riesendisco. Ich lag einsam in meinem Zimmer und hörte auf meinem Walkman: »Here we are now. Entertain us!« Ich war nur mitgefahren, weil ich hoffte, rein zufällig meinem Idol Morrissey zu begegnen. Das passierte nicht. Aber dann trat Kurt Cobain bei Top of the Pops in der BBC auf und sang: »Load up on drugs, kill your ­friends.« Er klang dabei wie Morrissey. Ich rastete schon wieder aus. Ich mag T-Shirts mit Aufschrift nicht, vor allem nicht solche, auf denen ein Bandname steht. Dank Kurt Cobain war jetzt alles anders, und ich konnte mit einem Band-T-Shirt herumlaufen, oh­ne peinlich zu sein. Ich kaufte mir einfach ein grün-weiß-braun gestreiftes T-Shirt, so eins, wie es Kurt Cobain immer trug. In der Schule sprach mich ein netter englischer Junge auf mein Shirt an und legte im Pausenraum eine Cassette in den Recorder. Er spielte mir den Song »School« vom ersten Nirvana-Album »Bleach« vor: »Won’t you believe it’s just my luck. No recess!« Ich ras­tete aus.

1994 war das Jahr, in dem sich Kurt Cobain umbrachte, Kim Il-Sung starb, ich die Schule verließ und in dem mein Alter zum ersten Mal mit der Zahl Zwei begann. Smelled like teen spirit.

doris akrap

 

Hund sein

Ich war noch gar nicht auf der Welt, als James Newell Osterberg diese schaurig-schönen Zeilen der bedingungslosen Hingabe ins Mikrofon schrie. Oder eher röchelte? Oder doch wisperte? »And now I’m ready to feel your hand / And lose my heart on the burning sands / And now I wanna be your dog / Now I wanna be your dog«, sang er; angetrieben von einem energischen, ag­gressiven Rhythmus, der ihn zu immer mehr, zur völligen Verausgabung jagte. Und doch, wenn man mich danach fragt, mit welchem Stück ich eine ganz besondere Erinnerung verbinde, ist es dieser Song, selbst wenn diese Wahl wenig schmeichelhafte Rückschlüsse auf mich und den Rest meiner Generation zulassen mag.

Ich war 19 Jahre alt und liebte D. Glück­licherweise liebte sie auch mich, darum wa­ren wir ein Paar, und alles war sehr schön. Aber mich quälte, dass ich ihr nie mitteilen konnte, was ich für sie empfand. Das lag nicht nur an mir. D. verabscheute jedes Pathos, feierliche Liebeserklärungen erschienen ihr als schwüls­tig, weshalb sie solche Situationen schnell durch Ironie oder Bagatellisierung auflöste. Mächtige Gefühle aber wollen ausgesprochen werden, und es ist peinigend, wenn ihr Adressat sie nicht hören mag.

Dann kam diese mir unvergessliche Party im autonomen Jugendzentrum in der süd­hessischen Kleinstadt, wo wir oft unsere Wochenenden zu verbringen beliebten. Wir tanzten seit einer Weile (lief vorher Nirvana?), als dieses Stück aufgelegt wurde. Ich kannte es nicht, und doch spürte ich bei den ersten Takten, dass dies unser Tanz sein würde. Unser Tanz!

Und das wurde er.

Obwohl wir ziemlich nüchtern gewesen waren, tanzten wir uns in einen wahren Rausch. Nach kurzer Zeit leerte sich die Tanz­fläche, die Leute machten Platz, weil sie merkten, dass sie nur störten. Nun hatten wir die gesamte ehemalige Lagerhalle für uns allein. Wir bewegten uns quer durch den großen Raum, prallten aufeinander, stießen uns ab, suchten und fanden uns wieder. Irgendwann ging ich in die Knie. Ich kroch auf allen Vieren, strich um ihre Füße und bellte und jaulte wie ein Hund, während D. ihre Luftgitarre gegen eine Luftpeitsche getauscht hatte, mit der sie im Takt auf mich einschlug. Dennoch bin ich sicher, dass sie verstand, was ich ihr immer sagen wollte. Well, c’mon – mmm – uh!

Nie wieder habe ich mich in in dreieinhalb Minuten körperlich und seelisch so verausgabt.

Ein Paar sind D. und ich längst nicht mehr. Aber wir sehen uns häufig, und manchmal gehen wir sogar miteinander tanzen. Einmal landeten wir, inzwischen lebten wir beide in Berlin, auf einer Tanzveranstaltung, die in einem Treffpunkt der autonomen Szene stattfand. Die Erinnerung mag täuschen, aber ich meine, es sei erneut ein Stück von Iggy Pop gelaufen. Jedenfalls bewegten wir uns in einer eher gewöhnlichen Weise auf der Tanzfläche, als sich ein halbes Dutzend Frauen zwischen D. und mich schob. Sie sahen aus, als führen sie hauptberuflich Sattelschlepper, studierten aber vermutlich Gender Studies und Kampf­sport. Sie wollten von D. wis­sen, ob der »Macker« sie bedränge. D. gab ihnen zu ver­stehen, dass dies nicht der Fall sei, und das Kommando zog sich kurz zur Beratung zurück. Kurz darauf kehrten sie wieder, um uns zu eröffnen, dass wir unerwünscht seien. »Ihr tanzt zu exzessiv«, lautete ihre Begründung.

Autonome Lokale habe ich danach gemieden, die Stooges haben kürzlich eine völlig belanglose neue Platte herausgebracht, und Ausdruckstanz konnte ich eigentlich noch nie leiden und Hunde noch weniger. Nur einmal begab es sich, dass ich ein Hund sein wollte und mich wie einer benahm. Keine Musik hätte mich dazu bringen können. D. schon.

deniz yücel

 

First and last and always

Die Ausgabe 2/2007 von Barmer, der Mitgliederzeitschrift der Barmer-Ersatzkranken­kasse, wartet in ihrem umfangreichen Pop-Teil unter der Kolumne »Gesundheit« mit einem wichtigen Hörtipp auf: Die Professoren David Aidridge und Lutz Neugebauer von der Privatuniversität Witten/Herdecke haben eine Vier-CD-Box herausgebracht, die Demenzkranken helfen soll. Versammelt sind Schellackschlager von 1917 bis 1946: früher Jazz, Tanzmusik, klassische Stücke. Interpreten sind Johannes Heesters u.a.

Der Hintergrund ist der folgende: Musik aus den frühen Lebensjahren entspannt, sagen die Forscher. Erinnerungen an Zeiten, in denen es den Leuten besser ging, wecken die Lebensgeister. Privat bzw. gesundheitlich, versteht sich. Nicht politisch, denn sonst wären Fliegerbombeneinschläge wohl unerlässlich. »Unsere Mutter sang fast alle Texte mit, erzählte Geschichten von früher und wagte sogar ein Tänzchen. So entspannt hatten wir sie lange nicht erlebt«, berichtet ein Käufer begeistert. Es geht hier um die Zielgruppe 60 plus.

Unweigerlich fragt man sich aber, was man selbst auf den vier CDs haben will, wenn es mit der eigenen Demenz soweit ist. Welche frühen Popsongs würde man draufpacken? Woran knüpfen sich gute Erinnerungen? Was wird uns das Magazin unserer Krankenkasse empfehlen, wenn es soweit ist – von wegen: »Unsere Mutter sang fast alle Texte mit und wagte sogar ein Tänzchen«?

In meinem Fall – dem der um 1968 Geborenen – stehen various artists zur Auswahl. Ganz oben auf der Liste der erste Popsong im Leben der meisten Menschen: Mamas Singsang. Noch durch den Schimmer der Demenz würden wir uns wie aufgehobene Säuglinge fühlen. Ausgerechnet den Song gibt’s aber nicht.

»Heidschi bumbeidschi« von Heintje kommt dem eben Erwähnten drastisch nahe. Heino, Elvis: Die ersten Popsongs werden auch die letzten sein, die passen, wenn man abgeschieden im Pflegestift vegetiert (»In the Ghetto«).

Bald aber verdrängen Jugend- die Kindheitserinnerungen. Und ist man in der Kind­heit unbeschwert, so in der Jugend draufgängerisch. Letztgenanntes kann auch im Altenheim nützlich sein – zum Beispiel, was die sexuelle Attraktivität angeht. Bei »Wish you were here« von Pink Floyd wurde schmusegebluest – in 25 Jahren ist das tanzteegeeignet. Und »Stairway to Heaven« von Led Zeppelin macht sich im Treppenlift gut.

Alles von den Dead Kennedys wäre auch nicht schlecht, zumindest für die, die 1981 beim Konzert in der Stadthalle von Bad Hon­nef dabei waren. Wobei hier zu fragen ist, ob diese Erinnerung bei den damals Anwesenden nicht dermaßen eingebrannt ist, dass sie schon demenzresistent ist. Und sonst: Jimi Hendrix, Depeche Mode, Minis­try, Eisenvater, Luciano Pavarotti, Take That, Slipknot (aber nur als Video).

Oder doch besser Anti? Etwas, das Wut und Zerstörungskraft weckt – das sind ja auch Lebensgeister. In der Anti-Demenz-Therapie-CD-Box könnten sich demnach auch Toto, Foreigner, Grönemeyer und Supertramp wiederfinden.

Wahrscheinlicher aber ist, dass gerade der Platz am Ende – einfach inhaltlich – dringend für andere Töne aus den Frühzeiten des Gehirns benötigt wird: für »Highway to Hell« (AC/DC), »Deaf Forever« (Mo­törhead), »Save a Prayer« (Madonna) und »Quiet« (Smashing Pumpkins).

Und – krass wie Geburt, schnell wie Tod – weil man’s vorn und hinten eilig hat: »You Suffer« (Napalm Death). Passt zum Kontext, dauert keine Sekunde.

jürgen kiontke

 

Lied Nummer Soundsoviel

Puhh, »der Song, der mein Leben veränderte«! Welchen Blödsinn soll ich jetzt dazu schreiben? Gerade ich, die ich mir Songs immer nur als »Lied Nummer Soundsoviel« auf einer der selbst gebrannten Geschenk-CDs merken konnte, die mir meine wohlmeinenden Freunde manchmal mit einem Frauenversteherhinweis überreichten (so von der Art: »Ich dachte, das könnte dir gefallen, du tanzt doch gerne, und ich habe dir auch das letzte Gala-Coverfoto von Angelina Jolie mit ihrem neuen Adoptivkind draufkopiert, weil’s eine CD mit Worldmusic ist«). Danke, großartige Idee, finde ich ja beides gut: die Gala und Musik aus dem Trikont.

Das mit den selbst gebrannten CDs hat sich nun ja bald erledigt, genauso wie sich zuvor die mühselig von Jungs hergestellten Mixcassetten für Mädchen, in die sie verliebt waren, erledigt hatten. Neue Tonträgertechnik und tschüss. Aber zurück zum Thema. Soll ich etwa schreiben: »Der Song, der definitiv mein Leben veränderte, ist die Nummer Vier auf der CD, die ›Tanzen Zwei‹ hieß? Oder hieß sie ›Für Steffi im Urlaub‹? Naja, egal, da gab es eine selbst gesam­plete CD mit einem Foto von Urwaldbäumen vorne drauf, die hatte einen Song Nummer Vier, den ich immer auf der fantastischen Überseereise gehört habe, die definitiv mein Leben verändert hat, weil ich mal was von der Welt gesehen habe und danach die Welt ganz anders von mir beurteilt wurde.«

Das geht gar nicht, derlei zu schreiben, oder?

Früher hatten Frauen es einfacher, das muss ich jetzt mal so rustikal ’rauslassen. Meine Mutter beispielsweise hätte meinem Vater zugerufen: »Du, ich bin gerade beim Sudoku, und da ist ein junger Mann am Telefon, der möchte wissen, welcher Song mein Leben verändert hat.« »Welcher Song unser Leben verändert hat?« würde mein Vater zurückfragen, und dann: »Sag ihm, es war ›Georgia‹ von Ray Charles.« So einfach wäre das damals gelaufen.

Heute braucht jeder und jede einen irre individuellen und quasi wissenschaftlich fundierten Musikgeschmack, um als vollwertiger Mensch zu gelten, und zwar ganz egal, ob er oder sie sich für Musik interessiert oder nicht. Dabei ist es gar nicht so, dass ich mich nicht für Musik interessiere. Ohne Musik gäbe es nun wirklich keine guten Partys und ja auch keine Konzerte. Aber dieses ewige Gefachsimpel darüber, wer welchen Pups in welche Coverversion von wem gemixt hat und wie geil sich das deshalb jetzt anhört, das geht mir auf die Nerven.

Okay, ich sag’s jetzt doch, weil die vom Redakteur erlaubte Textmenge schon fast erreicht ist: Mein Leben hat der Song »L.A. Woman« von den doofen Doors verändert, genau, und dazu stehe ich auch! Erstens, weil es ganz einfach bis in alle Ewigkeit der beste Song ist, den die Welt hervorgebracht hat, und zweitens weil ich die Platte von einer Person geliehen, nein, aufgedrängt bekommen habe, die eine Klasse unter mir war, eigentlich eine Kategorie Mensch, mit der man sich nun wirklich nicht abgab. Trotzdem gehen wir seitdem zusammen Bier trinken, und auch das wird noch eine Ewigkeit so bleiben … hoffe ich doch.

stefanie kron

 

Totale Negation

»Die Hoffnung stirbt zuerst«, sagt man hier bei uns im Tal der Bedrückten und Ängstlichen oft und gerne. Denn genau das passiert ja, wenn mal wieder ein Schub der Depression, der Angststörung oder einer ähnlichen Psychophobie über uns hereinbricht. Dank Therapie und ein bisschen Arbeit an den Ruinen des eigenen Ich lernt man mit der Zeit, damit zu leben, ganz gut sogar, wenn nicht gerade November oder Februar ist oder extreme Belastungen zum neuerlichen Tauchgang ins Meer des Selbstekels führen.

Zu meiner Ruinenarbeit gehören zwei CDs. Die eine heißt »Mentales Schwindeltraining«. Sie impft mir plump-suggestiv ein, dass alles besser werden wird, wenn ich mich auf ein »aktives Leben« konzentriere, auf Signale meines Körpers achte und das Denken und Zweifeln wenigstens hier und da mal abstelle, weil eh »alles von selbst geschieht«. Die CD ist der Hammer, ist Tavor für die Ohren, bringt sie doch wieder Hoffnung dorthin, wo eigentlich keine mehr zu erwarten ist. ­Selbst die deftigsten Panikattacken mit Herzrasen und allem Drum und Dran müssen weichen, wenn die sanfte Stimme von Dr. med. Dr. rer. nat. Reiner Beck samt hintergründigem Meeresrauschen sich anschickt, korrigierend in mein Missverhältnis von Adrenalin und Serotonin einzugreifen.

Die andere CD ist von Miles Davis, heißt »Ascenseur pour l’échafaud« und ist der Soundtrack zum gleichnamigen Film von Louis Malle. Auch sie schafft es, Ruhe und Selbstsicherheit zu verbreiten und die Herrschaft meines Zweihunderter-­Panikpulses zu brechen. Dabei tut sich von den 26 Tracks einer besonders hervor: »Julien dans l’ascenseur«, ein zwei Minuten und elf Sekunden langes, extrem basslastiges und von gedehnten, anfangs sehr hohen, später ­tiefer werdenden Saxofontönen gekennzeich­netes Stück, das am Ende scheinbar ­abrupt abbricht.

Wer noch Hoffnung hat, lässt sie nach dem Hören dieses Songs fahren. Gewisse konservative Kulturlinke hören Miles Davis im Allgemeinen und »Ascenseur pour l’échafaud« im Besonderen ja überhaupt nur, um sich intellektuell in Depression zu suhlen. Das ist ihr gutes Recht. Meines aber besteht darin, das schnelle Sterben der Hoffnung durch ihre totale Negation zu überwinden. Und genau das passiert mit dem Stück »Julien dans l’ascen­seur«. Es ändert mein Leben.

maik söhler

 

Des Heils harrend

»HUR – DEH ANTZIK KOHNTARKOSZ ­KREUHN KOHRMAHN STOHT WURDAH ­MELEKAAHM – UZ, DEH ORKBAHNN KREUHN KOHRMAHN ZEBEHN STRAIN DE GEUSTAAH – WORTSIS, DA REUS STOAH!«

Mit diesen, in einem befremdlich-beschwörenden Sprachduktus vorgetragenen Worten beginnt das albumfüllende Opus »Mekanik Destruktiw Kommandöh« der französischen Band Magma von 1973. Die Geschichte ist schnell erklärt: Irgendwo in den Weiten des Universums befindet sich der Planet »Kobaia«, der von emigrierten Erdenbewohnern kolonialisiert worden sein soll, die sich der Band als Sprachrohr bedienen, um der Menschheit den nahenden Untergang der Erde mit­zuteilen. Ein Seher namens Nebehr Gudahtt lässt Erlösung durch den Glauben an eine »Kreuhn Kohrman« genannte Lichtgestalt verkünden, die die Menschheit aus dem Zeitalter des Hasses führen soll. Die gesamten Texte und die Anmerkungen auf der Plat­tenhülle sind ausschließlich in der Sprache des Planeten verfasst.

Kaum sind die einleitenden kryptischen Worte verhallt, entwächst dem unheilvoll aufbrausenden Klangteppich ein schleppen­der Rhythmus aus Klavier, Bass und Schlagzeug. Ein Chor unterstützt in Planetensprache die Rhythmusgruppe und bildet einen reizvollen Kontrapunkt zum zeitweilig bis zum Extrem-Falsettgesang aufbrausenden Leadgesang: »U malawalawala wo siweli welohndai dowi weli wehnsai!«

Es folgt eine fantastische Reise durch die Ausdruckswelt der Musik, deren dissonante Partien das zu erwartende Weltende düster illustrieren, während hymnische, nahezu ekstatische Passagen lustvoll die Erlösung verkünden. Immer wieder lassen einen die ­Akzentuierung des repetitiven Klavierspiels und der mehrstimmige, altertümlich wirkende Gesang glauben, ein in Trance verfallener John Coltrane würde Orffs »Carmina Burana« in einer osteuropäischen Sprache rückwärts intonieren. Scharfe Rhythmuswechsel kontrastieren mit sich wiederholenden, hypnotischen Phrasen.

Als noch Vinyl auf Plattentellern rotierte, hatte man mitunter den Eindruck, bei den schwer zugänglichen Inhalten von Magma würde das wiederholte Abspielen jeder einzelnen Rille der Platte vonnöten sein, bevor die von der kobaianischen Weisheit beseelte Nadel abrupt weiterspringen und mit ihr letztlich der Hörer näher zum Verständnis gelangen könne.

Nach rund 40 Minuten mündet das Stück in sein Finale, die Anpreisung Nebehr Gudahtts und Kreuhn Kohrmans, bevor es abrupt abbricht und den Hörer verstört in die Realität entlässt, die nach diesem Hör­erleb­nis fürwahr nur noch trostlos und eines Heilsgedankens harrend erscheint.

Für mich war »Mekanik Destruktiw Kommandöh« ein Erweckungserlebnis. Magma bieten fernab von den Klischees und dem Kitsch der Religionen eine charmant morbide Spiritualität in ihrer Musik, die ihresgleichen sucht. Frankophone Hörer können hier zwar französische Musik hören, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen, dennoch zeigt die Kraft der gesanglichen Darbietung in der Phantasiesprache des Planeten Kobaia auch deutlich auf, dass es nicht auf den vordergründigen Wortlaut des Gesagten ankommt, sondern darauf, dass wir alle eine universelle Sprache sprechen und verstehen. Dem Musikfreund öffnet sich außerdem eine Spielart progressiver Musik, die, auf perkussiven Elementen und Gesang basierend, angenehm entschlackt von ausufernden Gitarren- und Keyboardsoli daherkommt. Die Verkündung des Weltuntergangs kann schau­rig schön sein.

peter schmelzle

 

Tears are filling up their glasses

Die Mischung aus komplettem Unverständnis und tiefer Abneigung, die einem entgegenschlägt, wenn man Bands wie Tears for Fears erwähnt. Dieser Blick, der sagt: »Wie kannst du nur?« Der alles in Frage stellt, was man über den Musikgeschmack, über die Person gedacht hatte. War man bis dahin als eine kompetente Gesprächspart­nerin in Fragen des guten Geschmacks geschätzt worden, machte diese Erwähnung alles hinfällig.

Mir ist das gelegentlich passiert, was daran liegen mag, dass einige mei­ner Freunde Anfang der achtziger Jahre lieber The Smiths, The Clash oder The Undertones hörten. Doch was soll man machen, wenn man in der hessischen Provinz mit AFN aufwächst. (Ich hätte die britische Besatzung vorgezogen.) In der Zeit des Radios vor »Der Ball ist rund«, als man ins Bett musste, bevor der »Rockpalast« ge­sendet wurde.

Eine dieser Situationen hatte ich, als ich meinen schottischen Mitbewohner vor zwei­einhalb Jahren bat, den Song »Mad World« für mich auf CD zu brennen. Nachdem er den Grund erfahren hatte, wurde sein Gesichtsausdruck milder und mir mein Wunsch erfüllt.

Tears for Fears hatte ich lange nicht gehört. Ich verband keine spezifische Erinnerung damit. Das änderte sich mit dem Tod meiner Cousine.

An dem Morgen, als ich zu ihrer Beerdigung reisen musste, erwachte ich mit der Textzeile: »The dreams in which I’m dying/Are the best I’ve ever had.« Zunächst war ich überrascht, hatte ich doch »Mad World«, wie gesagt, lange nicht gehört. Beim Erscheinen der Single war es ein schönes, ­tanzbares Stück Popmusik gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Die Textzeile bekam erst später mit dem Film »Donnie Darko« eine andere Bedeutung. Wenn am Ende des Films »Mad World« erklingt, ist das überwältigend. Die Coverversion von Andrews/ Jules hat mir den Text und seine Traurigkeit noch einmal deutlich gemacht. Vielleicht war mein Englisch früher nicht gut genug, oder ich achtete bei Tanzmusik nicht allzu sehr auf Texte.

Von besagtem Morgen der Bestattung an begleitete mich das Stück, half mir durch die unerträglichen Stunden, die vor mir lagen. Immer und immer wieder sang ich in meinem Kopf: »I find it kind of funny / I find it kind of sad / The dreams in which I’m dying / Are the best I’ve ever had / I find it hard to tell you / ’Cause I find it hard to take / When people run in ­circles / It’s a very, very mad world.«

Während der Zugfahrt, des Besuchs der Leichenhalle und des Trauergottesdienstes hielt ich mich an Tears for Fears. Die Konzentration darauf ließ mich die Worte des Pfarrers ig­norieren und das Zusammensein mit Fami­lien­ange­hörigen und anderen Trauernden ertragen. Bei all den Zigaretten, die ich nun, da meine Cou­sine mich nicht mehr beglei­tete, alleine rauchte, wirkte das stän­dige Wie­der­holen beruhigend.

Wieder zu Hause und im Besitz ­einer wunderschön zusammengestellten CD, hörte ich fortwährend »Mad World«. Ich tanzte und weinte. Anfangs täglich und nächtlich. Mit der Zeit wurden die Abstände größer und die Tränen weniger.

Doch noch heute, zwei Jahre später, muss ich, wenn es mal wieder soweit ist, den Song auf repeat hören. Meistens bin ich einfach nur angenehm berührt, tanze, singe und denke an meine Cousine. Ich denke gerne an sie. Und »Mad World« wird auf immer mit ihr und der Trauer über ihren frühen Tod verknüpft sein.

»Hide my head, I want to drown my sorrow, no tomorrow.« Dabei hilft ein Freund, der einen in den Arm nimmt und tröstet, so wie »Mad World« von Tears for Fears.

uta zimmermann

 

Dschingis Khan

Jeder hat angeblich einen Song, der sein Leben veränderte. Ich nicht. Warum auch? Das Ganze ist doch nur eine Überhöhung des eigenen Selbst. Man bildet sich seine eigene Legende, seinen die eigene Person konstituierenden biographischen Mythos. Meistens beginnen die Reden in dunklen und verrauchten Kneipen mit Sätzen wie: »Ich hörte den Song zum ersten Mal Neuzehnhundertundsoundsoviel. Damals wurde ich zum Punkrocker.« Oder: »In meiner Jugend wurde ich von den Ramones beeinflusst.« Wichtig bei der Bildung dieses Mythos scheint zu sein, dass man die Erleuchtung meist in der Jugend erlangt. Kein Mensch weiß von einem Fall zu berichten, in dem jemand um die 40 den Einfluss von Tokio Hotel auf sein Leben konstatiert. Abgesehen von Herbert Grönemeyer, der seine Liebe zur Musik der Jungs aus Magdeburg in der Zeitschrift Neon offenbarte, und zweier Autoren der Jungle World (­Jungle World 08/2007), die sich in einer Textsammlung zum Phänomen Tokio Hotel äußern, als ob ihnen der Heiland erschienen sei. Kann man doch den positiven Bezug auf ­musikalischen Schrott auch dazu benutzen, sich noch im fortgeschrittenen Alter als popkulturelle Avantgarde zu profilieren, indem man die Coolness einer schlechten, sich im Vorschulalter befindenden Band entdeckt. Einer der Autoren findet ihren Bezug auf popkulturelle Zeichen so interessant. Der andere Autor traut sich nicht richtig. Er bleibt mit Ironie auf Distanz. Mit verhaltener Bewunderung sucht er nach der Rebellion in den Texten, die er bei der Bewertung von Musik benötigt, um den Mythos seiner eigenen Zeit des Aufbegehrens aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig entdeckt er aber das Coolnesspotenzial, welches das Dasein als 38jähriger Fan von Tokio Hotel verspricht. Denn im fortgeschrittenen Alter reicht der Verweis auf die wilde Jugend nicht mehr aus, um dem eigenen Vergreisen entgegenzuwirken und noch besonders lässig zu erscheinen.

Ein neuer Trend? Nein. Nur Einzelfälle, die versuchen, daraus einen zu machen! Heerscharen von Berufsjugendlichen träumen noch heute davon, mit Mark E. Smith Pizza essen zu gehen, oder streifen sich ihr altes verwaschenes Ramones-T-Shirt über, wenn sie auf dem Konzert von Robbie Williams ihre Mitmenschen beeindrucken wol­len. Doch Menschen von Verstand lassen sich davon nicht beirren. Sie antworten auf die Frage, welche Musik man höre, wahrheitsgemäß mit: »Alle Richtungen.« Oder mit: »Was so in den Charts ist.« Sie wissen, dass ihre erste Platte, die sie sich gekauft haben, nicht von den Sex Pistols, sondern »Moskau« von Dschingis Khan war. Das Album der Sex Pistols haben sie sich erst Ende der Neunziger auf dem Flohmarkt gekauft und nicht heimlich aus dem Plattenschrank des großen Bruders entwendet. Sie waren ganz normale jugendliche Spießer, leider waren sie nie Punk, Mod oder Rocker. Sie haben wie alle anderen auch zu »Losing My Reli­gion« von R.E.M. auf der Abi-­Party im Kreis getanzt. Und niemand braucht sich dafür zu schämen. Denn »die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens«, wie Schorsch ­Kamerun im gleichnamigen Song feststellt, einem Song, der mein Leben veränderte. Brauchte ich mir doch von nun an keinen Song mehr zu suchen, der mein Leben verändert haben soll.

stefan rudnick

 

Alte Männer mit Bärten

Der Ernst, die Strenge, das Gehetzte – nichts dergleichen war mehr in den Gesichtern zu sehen. Menschen beugten sich zu mir herunter und sagten freundlich Sätze wie: »Na Kleiner, bist du auch schon gespannt auf ZZ Top?« Andere verstand ich nicht. Englisch lernte ich in der Grundschule noch nicht.

Mein Vater, meine Mutter und ich standen auf der Tribüne der Halle und waren hauptsächlich von US-Soldaten umgeben, die ihre Kaserne in Würzburg um des Konzertes willen verlassen hatten. Sie tranken unglaublich viel Bier. Ich roch etwas, das ich nicht recht einordnen konnte, einen Duft, den ich erst etliche Jahre später wieder in meiner Nase haben sollte, als ich selbst meinen ersten Joint rauchte.

Dann wurde es dunkel. Ein tiefer Basston erfasste mich. Ich konnte ihn nicht nur hören, sondern auch in meiner Magengrube spüren. Auch der Boden ­vibrierte. Einzelne Lichter begannen auf der Bühne zu flackern. Aus dem Flackern wurde ein Gleißen. In diesem blendenden, weißen Licht kamen sie schließlich auf die Bühne: drei Männer in hellen Anzügen, die Sonnenbrillen trugen. Einer setzte sich an das Schlagzeug. Von den beiden anderen – beide trugen lange ­Bärte – hatte einer eine Gitarre und der andere einen Bass umgehängt. Die Instrumente hatten die Form der Limousine, die auf dem mir vertrauten Plattencover abgebildet war.

Das Kribbeln in meinem Bauch hörte nicht mehr auf, und jeder Schlag des Trommlers fügte ihm einen kleinen Akzent hinzu. Die Band wog sich im Rhythmus, das Publikum auch. Mein Vater stand jubelnd mit erhobenen Händen neben mir. Er war nicht mehr der zurückhaltende und gesetzte Lehrer, den ich von zuhause kannte.

Nach etlichen Songs verdunkelte sich die Bühne wieder, ZZ Top waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Den Song, den sie spielten, kannte ich von dem Album mit der Limousine, das im Plattenschrank meines Vaters stand. Das Lied war langsam und hatte etwas Monotones, das mich faszinierte. Ich musste mit dem Kopf nicken und mein Körper wippte mit, einfach so.

Als der Song zur Hälfte vorüber war, wurde es völlig dunkel. Dünne, grüne Strahlen wirbelten plötzlich von der Bühne her über die Köpfe des Publikums hinweg, ließen Formen und Figuren entstehen, die sich wieder auflösten, ehe sie sich zu etwas Großem verbanden: die Limousine auf dem Plattencover! Und dann gab es nichts anderes mehr: Schule, Hausaufgaben, der Fußballverein, zu dem ich eher widerwillig ging, weil mein Vater es so wollte, die zunehmend lauten und häufigen Streitereien meiner Eltern, all das war weg, verschwunden. Die Musik war in meinem Körper, in den Beinen, im Magen, im Kopf. Vor mir schwebte eine riesige Limousine aus Licht. Das war wichtiger als alles andere auf der Welt. Das war Rock’n’Roll.

Am nächsten Tag, gleich nach dem Frühstück, holte ich die ZZ Top-Platte aus dem Schrank, legte sie auf und erkannte den Song wieder. Dann hörte ich »TV Dinners« so oft, dass es selbst meinen Vater, einen überzeugten ZZ Top-Fan, in den Wahnsinn getrieben haben dürfte. Aber das war mir vollkommen egal.

markus ströhlein

 

Einer wie ich

Ich war siebzehn. Meine Versuche, aus dem Mittelstandswohlstand meiner behüteten Kindheit auszubrechen, beschränkten sich auf gelegentlichen Alkoholkonsum und Discobesuche mit Bekannten. Ich fühlte mich ziemlich beschissen, keine Freundin bis jetzt und auch keine Aussicht auf Besserung. Mein Schwarm wurde heftigst vom neuen Helden meiner Clique umgarnt. Schlechte Karten für mich. Ich ließ mich nicht mehr blicken.

Irgendwann tauchte mein Kumpel M. wieder auf, der sich einige Zeit in den USA aufgehalten hatte. Das war nicht weiter wichtig, aber er brachte einen Ami mit: N. war cool, nicht so pseudo­rebellisch wie die Jahrgangssäufer und nicht so auf Karriere versessen wie der Rest meiner Mitschüler. Mit ihm besuchte ich mein erstes Konzert der Smashing Pumpkins. Ich kannte erst zwei Songs. Oder einen. Auf jeden Fall war »Cherub Rock« mir sofort ins Gehör gedrungen und wollte nicht wieder hinaus. Was für eine Stimme! Wie viel Verzweiflung aus den Texten sprach!

Das »Docks« war nur halbwegs gefüllt. Ich radebrechte mit meinem Teenagerenglisch herum, aber N. war überaus freundlich und bemühte sich fleißig, hin und wieder etwas Deutsch zu verstehen. So weit, so gut.

Endlich kamen sie auf die Bühne, die Pumpkins. Da ich ein sehr unbestimmtes Bild von Frauen hatte, beeindruckte mich zunächst die Tatsache, dass mit D’Arcy eine Frau am Bass stand. »Stand« ist gut, eigent­lich war sie ständig in Bewegung. Abgesehen vom großartigen Song »Silverfuck« mit seiner symbolträchtigen Pause widmete sie sich voller Inbrunst ihrem Instrument. Der Sänger, Billy Corgan, machte einen gehörigen Eindruck auf mich, ­insbesondere seine Wechsel zwischen herausgeschrieener Verzweiflung und den ruhigeren Passagen. Da stellte sich jemand aus, der sich verloren fühlte in der Welt, ähnlich wie ich!

Im Gegensatz zu ihm jedoch hatte ich bis­her keine Möglichkeit gefunden, wie ich das der Außenwelt mitteilen konnte. Abgesehen von meinem Interesse für Heavy Metal und meinen langen schwarzen Locken erschien ich anderen wohl wie ein gewöhnlicher Vorstadtjugendlicher. Niemand ahnte etwas von meiner ausgeprägten Teen­ager­depression. Hier stand nun ein Sänger auf der Bühne, der sein Innerstes nach außen kehrte. Er wirkte nicht wie einer, der es da­rauf anlegte, eine Show abzuziehen. Er hat­te seinerzeit wohl eine schlimme Krise hin­ter sich und in der Folge die Songs für das Album »Siamese Dream« geschrieben. Er sang von Dingen, die auch mich beweg­ten, unerfüllte Liebe und tief­schwar­ze Melancholie. Nach dem Konzert war nichts wie vorher. Ich hatte endlich einen Musiker entdeckt, der meine Gefühle formulierte!

Ein halbes Jahr später war ich glücklich verliebt und aus dem Gröbsten raus, was meine Depression betraf. Als die Platte erschien, war ich noch in derselben Woche ihr stolzer Besitzer. Ich kann noch heute jeden Song mitsingen. An den schlimmsten Tagen meiner Jugend gab es nichts Beruhigenderes als den Song »Today«, dessen Refrain mir noch heute zuweilen im Gehör herumspukt. Und er enthält einen Rest Hoffnung auf ein besseres Morgen.

tobias kirsch

 

Nicht pubertär bleiben!

Der Tag, an dem ich das erste Mal das Stück »Chicago Now!« von The Fall hörte, in der rauen Version, die sich auf dem Album »Sinister Waltz« findet, nicht in der wesentlich bekannteren Version auf dem Album »Extricate« von 1990, dieser Tag war ein besonderer Tag. Es war auch der Tag, an dem ich mir meine erste Platte von The Fall gekauft hatte. Damals aus Heimweh. Heimweh, da F. und B. nicht mehr in derselben Stadt wohnten, F. und B., die mich, wie jeden anderen Menschen, den sie mochten, immer mit The Fall traktierten. Nun hatte ich keinen Grund mehr, alle Stücke dieser Band abzulehnen, wie ich es zuvor tat. Seinerzeit lehnte ich die Band ab, weil niemand zu seinem Glück gezwungen werden will und sich schon gar nicht anderer Leute Geschmacks­attacken beugen möchte.

Jetzt aber, in Berlin, neu in Berlin, wollte ich doch einmal hören, was denn bitteschön dran sein soll­te an dieser Band, deren Musik ich allerdings bereits recht gut kannte – und die mir, ja, ­lieber F., ja, lieber B., ­sogar ­gefiel – und die mir, wie seinen Millionen anderen Hörern auch, immer wieder John Peel empfohlen hatte. Es muss­te ja was dran sein. Die gebrauchte Langspielplatte kostete nicht viel, neun Mark, ich kaufte und ahnte nicht, dass mich dieses Stück so anrühren würde. Das aber tat es, bereits beim ersten Hören. Ich war entbrannt. Ich spielte »Chicago Now!« selbstverständlich W. vor, der es scheiße fand, und auch A., die den Song beeindruckend fand, doch bessere Stücke von The Fall kannte. Ich kannte kein besseres. Doch kaufte ich mir in den nächsten Wochen ziemlich viele der anderen Alben, ließ mir einige andere brennen, und kenne mich heute, glaube ich, mit den Songs der Band einigermaßen gut aus. Zudem war ich auf recht vielen Konzerten, wenn auch längst nicht auf jedem, auf das ich es hätte schaffen können. Ich habe eine schöne Zeit mit der Band gehabt. »Chicago Now!« ist mein Lieblingslied, noch immer. Ich höre es allerdings selten, doch wenn ich es höre, wirkt es noch immer. Hat dieser Song allerdings mein Leben verändert? Hat je ein Song ein Leben verändert? Das sind diese Fragen, die man sich nach der Pubertät nur stellen kann, wenn man noch in der Pubertät bleiben will. Es sind die falschen Fragen.

jörg sundermeier