Verspielte Organe

In "eXistenZ" löst Regisseur David Cronenberg seine Individuen in fröhlichem Pessimismus auf.

David Cronenberg, der Damien Hearst des Films, wäre ein guter Metzger geworden. Jetzt kaufen die Leute Kinokarten und Videos. Schließlich haben sich wenige Regisseure um Körperwucherungen und -eingänge so verdient gemacht wie der Schöpfer von "Videodrome", "Die Fliege" oder "Crash".

Hier die neue Einstellung: Schauspieler Jude Law bekam gerade eine neue Körperöffnung, wenige Zentimeter über seinem Hintern, die Stelle schmerzt noch. Behutsam trägt Jennifer Jason Leigh ein Gleitmittel auf. Dann pluggt sie Law die künstliche Nabelschnur ein - der Mensch ist online. Und hier hört die Darstellerkunst auf. Wer würde Jude Law jetzt noch glauben, der Rückenmarks-Orgasmus sei gespielt?

An ein- bis mehrdeutigen Sequenzen, die vom Grenzbereich von Mensch und Maschine handeln - es geht schon mit dem Filmtitel "eXistenZ" los, dem Leigh beim Buchstabieren erotische Konnotationen abgewinnt -, ist Cronenbergs Film wahrlich nicht arm. Und an guten Darstellern auch nicht: die elegante Leigh in der Rolle der Spieleprogrammiererin Allegra Geller, in einer Zeit, da die wie Superkünstler gehandelt werden. Selbst wenn der Film schlecht wäre, man würde Leigh gern zwei Stunden darin anschauen. Das schaffen sonst nur Minnie Driver und Nastassja Kinski!

Er ist es aber nicht. Zu Beginn stellt Allegra den Oberen des Konzerns Antenna Research ihr neues Produkt vor: das Spiel "eXistenZ", das Hard- und Software, Spieler und Programm in organischen Automaten verschmilzt. Am Bioport, der Schnittstelle im Rückgrat, werden mehrere Teilnehmer im Rückenmark miteinander verkabelt, die Nerven steuern den Spielverlauf. Zentrale Einheit ist die Game-Pod, die Spielniere, ein aus künstlichem Fleisch geschaffener Rechner. Dann kommt der Attentäter: "Nieder mit 'eXistenZ', nieder mit der Dämonin Allegra Geller!" Mit einer gristle gun, einer Pistole aus den Knorpeln genetisch veränderter Lebewesen - kein Detektor kann sie finden, weil sie nicht aus Metall besteht -, verschießt er menschliche Zähne.

Allegra und Ted (Law) können flüchten. Was ihr Vergnügen bereitet, bedeutet für ihn Gefahr. "eXistenZ" erfüllt ihn mit Unbehagen. Angestrengt hält der Konzernpraktikant als zwangsverpflichteter Leibwächter Allegra eine Mördertruppe vom Hals, die sich fünf Millionen Dollar verdienen will. Diese Summe haben die Anti-eXistenZialisten auf Allegras Kopf ausgesetzt, die Fatwa, das Todesurteil, ausgesprochen.

Erschreckt bis belustigt stellt die flüchtende Allegra fest, dass Ted keinen Bioport-Rückenmarksanschluss besitzt. Das lässt sich nachholen (s.o.), schließlich gelingt der saubere Einstieg ins Spiel. - Aber waren die beiden nicht vorher auch im Spiel? War der Anschlag der Anti-eXistenZialisten nun Teil des Programms, sind die Toten echt? Denn so viel ist klar: Allegras Welt ist die absolute Künstlichkeit, die Verschmelzung von Körper und künstlichem Denken zur Identitätsproduktion. Ist das noch oder schon Spiel? Die verwirrenden und grauenhaften Ereignisse, die folgen, sprechen dafür.

Der Wechsel zwischen echter und Spielrealität könnte auch einer zwischen verschiedenen Spielebenen sein, der Eintritt in die verrückte Welt von "eXistenZ" nur eine Spielschleife, ein game loop, oder eine Verhaltensanweisung für unkundige Mitspieler. Alle Wege führen in die mysteriöse Fischfarm. - Können Sie mir noch folgen?

"Jeder sieht das, was er sich einbildet", das ist Cronenbergs Überzeugung, und er bezeichnet sich selbst als Existenzialisten, als Nachfahre jener ausgestorbenen philosophischen Schule, deren blasse, in schwarze Rollkragenpullover gekleidete Anhänger nach Daseinsberechtigung ihrer selbst suchten, indem sie in abgedunkelten Schuppen Jazz hörten.

Flunkert Cronenberg? Sein Film jedenfalls besitzt eine außerordentliche Komik und eine im Kino selten gewordene Mehrschichtigkeit der Erzählstrukturen. Wenn das Fleisch erst künstlich ist, gibt es kein Außen mehr, dann ist auch der Mensch nicht mehr autonom, wenn er es überhaupt je war - das ist das Thema des Kanadiers, seitdem er Filme macht. Und er "operiert" philosophisch wie kein anderer. Ob in "Videodrome" der Mann zum Fernseher mutiert, in "Die Fliege" Jeff Goldblum zum wuchernden Wunschklumpen transformiert, die Schreibmaschine in "Naked Lunch" zum Käfer wird oder die Autochaoten in "Crash" es darauf anlegen, dass ihre Gliedmaßen ein eigenständiges Leben als Wrackteile nach Fahrbahnunfällen führen, bis das Publikum (der Rezensent) vor Entrüstung aus dem Kino läuft: Für Cronenberg ist das Individuum eine Erfindung, die, das ist seine Zivilisationskritik, schnell wieder abgeschafft werden kann. Die Bemühungen des Einzelnen um Selbständigkeit sind ihm ein schön phantasierter Egoismus. Das ist ein einfacher, zugleich immens kunstvoll erzählter fröhlicher Pessimismus.

"eXistenZ" ist ein guter - und sehr schöner - Kommentar zum gesellschaftlichen Fortschritt wie zur Filmgeschichte. In seinen besten Momenten fügt er beides zusammen: Wenn die Menschen, die sich als Spielfiguren in "eXistenZ" selbst begegnen, Dinge tun, die sich offensichtlich mit dem Spielverlauf nicht vereinbaren lassen, verharren sie in Bewegungslosigkeit. Eine Reflexion des Handlungsüberschusses, wie er aus den meisten Filmen herausgeschnitten wird und oft als Director's Cut, als Untotes, ins Kino zurückkehrt. "eXistenZ" geht gleich als Director's Cut an den Start, weil Cronenberg Leben als Abwesenheit von Tod und nicht umgekehrt Tod als Abwesenheit von Leben begreift. Das Nicht-Erzählte steht neben dem Erzählten in einer Einstellung: Darum bekommt die Schreibmaschine Beine ("Naked Lunch"), jeder Film ein ganz eigenes Arsenal von Accessoires: biologische Telefone, Waffenratten u.a.

"Ich fühle mich ein klein wenig losgelöst von meinem wirklichen Leben. Ich weiß nämlich weder, wo sich mein Körper, noch wo sich die Realität befindet. Ich weiß auch nicht mehr, was ich getan bzw. nicht getan habe", sagt Ted. "Das ist ein wunderbares Zeichen", entgegnet Allegra, "das Spiel macht viel mehr Spaß, wenn es erst einmal realer als die Wirklichkeit geworden ist."

Happy-End oder happy Tod, wen interessiert's? Wenn Cronenberg, Kafkas Großneffe, jemals die Antwort geben sollte, müsste der Eintrittspreis wohl erhöht werden. Dann nämlich ist in der Filmvorführung inbegriffen, dass der Zuschauer nach dem Abspann Teil des Films, ja des Kinos geworden ist. Als Bild, Figur, als Leinwand und als Stuhlreihe.

Da es so weit noch nicht ist, ist ein phantastischer Film entstanden, im gebräuchlichen wie im sprichwörtlichen Sinne. Er habe einen Film über Salman Rushdie machen wollen, sagt Cronenberg. Das ist ihm wohl gelungen.

"eXistenZ ". C/GB 1998. R: David Cronenberg, D: Jennifer Jason Leigh, Jude Law, Willem Dafoe. Start: 11. November