Siegfried Kracauer schrieb im Exil in Frankreich die Vorstudien zu seiner »Theorie des Films«

Danse macabre in Marseille

Während Siegfried Kracauer auf dem Weg ins US-amerikanische Exil 1940 in Marseille festsaß, widmete er sich ausgerechnet dem Medium der Bewegung – dem Film. Der dabei entstandene »Marseiller Entwurf« sollte die Vorstudie zu seinem 20 Jahre später erschienenen Buch »Theorie des Films« werden.

Zu den Gründungsmythen des Kinos gehört die Erzählung, die ersten bewegten Bilder hätten einen so realistischen wie unheimlichen Eindruck hinterlassen, dass die Zuschauer in Panik aus dem Projektionsraum flohen. Die berühmte, weniger als eine Minute lange Szene, die diese Reaktionen ausgelöst haben soll, wurde in der Stadt La Ciotat, unweit von Marseille, aufgenommen.

»L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat«, gedreht von den Brüdern Auguste und Louis Lumière entweder im Jahr 1895 oder 1896, zeigt eine einzige Einstellung: ein Bahnsteig, am rechten Bildrand sind wartende Menschen zu sehen, die sich bei der Einfahrt des Zuges langsam mit diesem mitbewegen, bevor sich die Türen öffnen und ein geschäftiges Gewusel aus Zu- und Aussteigenden entsteht.

Siegfried und Elisabeth »Lili« Kracauer waren unmittelbar nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 nach Paris geflohen. Der Plan, eine Filmästhetik zu schreiben, entstand in den Jahren 1937/1938.

Mehr als 60 Jahre später verdeutlichte Siegfried Kracauer in seiner »Theorie des Films« anhand eines Vergleichs der Züge bei den Gebrüdern Lumière und ihrem Zeitge­nossen Georges Méliès und dessen theatralen, überbordend spielerischen Kunstfilm »Le Voyage à travers l’impossible« (1904) die zwei »Haupt­tendenzen« des noch jungen Mediums. Der am Bahnhof La Ciotat einfahrende Zug der Gebrüder Lumière lasse »keinen Zweifel an seiner Echtheit zu«. Sein Gegenstück bei Méliès hingegen sei eine Spielzeugeisenbahn, »so unwirklich wie die Landschaft, durch die sie fährt«.

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