Die Reisenotizen von Siegfried Kracauer

Nichts am Platz

Pedantisch fertigte Siegfried Kracauer Notizen über seine Reisen nach Europa an – auf Englisch. Die im Deutschen Literaturarchiv Marbach gelagerten Zettel sind jetzt in einem Band erschienen.

In München ging Siegfried Kracauers Uhr plötzlich vor, ganz so, als wolle sie die Abreise beschleunigen. In Athen erinnerten ihn die antiken Wandgemälde an Comicstrips. In Mailand dachte er darüber nach, wie sich Städte am besten besuchen lassen, nämlich in einer Mischung aus »Sightseeing« und ziellosem Herumstreifen. Und im schweizerischen Bergün diskutierte er mit Theodor W. Adorno über den Begriff der Utopie. All dies findet sich auf 147 Notizzetteln, so gut wie alle 12,7 mal 7,6 Zentimeter groß, die sich mittlerweile im Konvolut »Reisenotizen zu Personen, Orten, Veranstaltungen« des im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrten Nachlasses von Kracauer befinden. Herausge­geben und eingeleitet von Julia Amslinger und Kyra Palberg ist nun unter dem Titel »Ideas, Talks and Some Scattered Observations. Aufzeichnungen aus Europa (1960–1965)« eine Auswahl der Notizen erschienen. Sie zeugen von einem Leben, das es um ein Haar so nicht gegeben ­hätte.

Wie für viele andere durch den Nationalsozialismus zuerst aus Deutschland, dann vom europäischen Kontinent Vertriebene, endete die Flucht für Siegfried und seine Frau Elisabeth »Lili« Kracauer in New York City. Die Metropole war für die beiden nicht irgendein Ort, es war »die letzte Station, die letzte Chance«. Nach ­einer gut achtjährigen Odyssee und einer »Existenz, die nicht diesen Namen verdient«, erreichte das Ehepaar die Stadt Ende des Jahres 1941. Nur dann, so schreibt Kracauer an Adorno, könne er diese letzte Chance ergreifen, wenn er »gleich in New York eine erste erhalte«. Weil das geschah, weil Kracauer unermüdlich arbeitete, seine Studie »From Caligari to Hitler« beendete und sich bald auch in der Sprache seines Exillands als Filmkritiker und -theoretiker profilierte, konnte New York für die Kracauers ein Zuhause werden, was es auch bis an ihr Lebensende bleiben sollte.

Dass die Reisenotizen auf Englisch verfasst sind, wenngleich diesem die Anlehnung ans Deutsche noch ablesbar ist, zeugt vom Ankommen Kracauers in den Vereinigten Staaten.

In New York sesshaft geworden, wurde dem Ehepaar Kracauer vor allem in den letzten Lebensjahren Europa zum Urlaubs- wie Geschäftsort gleichermaßen; schon früh hegte das Paar den Wunsch, besuchsweise auf den Kontinent zurückzukehren, was sie aufgrund finanzieller Nöte immer wieder verschieben mussten. Die erste Rückkehr erfolgte im Sommer 1956, ab 1960 verbrachten sie regelmäßig mehrere Wochen in Europa. Gemeinsam kehrten sie in die Städte zurück, mit denen sie vor dem Exil aufs Engste verbunden gewesen waren, besuchten Freundinnen und frühere Weggefährten; zudem reiste Siegfried Kracauer im Auftrag der Bollingen Foundation zu verschiedenen Forschungseinrichtungen und knüpfte Kontakte mit Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, bevor es networking als Tätigkeitsbeschreibung gab.

All diese Aktivitäten wurden geradezu pedantisch geplant und detailliert protokolliert und dokumentiert. Vorab wurden teils über mehrere Wochen hinweg Reiseausgaben kalkuliert, genauestens aufeinander abgestimmte Routen- und Terminpläne erstellt, Listen zu schreibender Briefe verfasst. Im Nachhinein dokumentierte Kracauer häufig ausführlich die geführten Gespräche; sie gleichen mal Erinnerungsstützen, mal dienen sie dem Nachvollzug des eigenen Denkens, in dem aber nicht nur aufgeführt ist, was gesagt wurde, sondern auch – wie in einer ausführlichen Aufbereitung des Gesprächs mit Adorno –, was hätte gesagt werden können (die Herausgeberinnen sprechen in ihrer konzisen Einleitung von einer »Potentialisierung vergangener Realität«).

Die Aufbereitungen der Treffen sprechen die vielfältige Sprache des Privaten: anteilnehmend, warmherzig, aber auch selbstgefällig, bestürzt und zuweilen spöttisch. Nach einem Treffen mit Ernst und Karola Bloch resümierte Kracauer: »Like Santa Claus he throws all things of this world in his enormous gift bag and presents them to us as tokens & portent of man’s inveterate longing for Utopia.« Über ein Gespräch mit Isaiah Berlin in London im Juli 1962 heißt es, dieser habe vor allem Kracauers Ansinnen unterstützt, Marcel Proust als Geschichtsdenker zu deuten. Auf anderen Zetteln wiederum finden sich Ideen zu Filmen oder Romanen und lose Gedanken über die Veränderung der Städte seit dem Zweiten Weltkrieg, das Bedrückende von Passagendurchgängen (»a ceiling where there should be open space«), die unmerkliche Transformation von im Museum angeschauten Bildern und die Rolle von Kosenamen in Liebesbeziehungen (»Lovers must invent their names to define a relation that cannot be shared by anyone else«).

Dass die Reisenotizen auf Englisch verfasst sind, wenngleich diesem die Anlehnung ans Deutsche noch ablesbar ist, zeugt vom Ankommen Kracauers in den Vereinigten Staaten. Anders als Adorno war Kracauer nicht der Ansicht, dass »die entscheidenden Dinge nur in der eigenen Sprache« gesagt werden könnten, sondern wollte nicht weniger als »ein englischer Schriftsteller« werden. Entsprechend dokumentiert der Band die Notizen unübersetzt in ­ihrer Originalfassung. Abgesehen von einigen wenigen Wörtern, die Kracauer in seiner Muttersprache belässt, ist ausgerechnet ein einzelner, über Adorno kalauernder, gereimter Satz auf Deutsch verfasst: »Der ­Wiesengrund richtet die Wiesen zugrund.«

Die Distanz zu Deutschland ist keine bloß sprachliche. Merklich heben sich die niedergeschriebenen Eindrücke von Kracauers Rückkehr in das Land der Täter von den Notizen aus Italien, der Schweiz oder Griechenland ab. Schon nach der ersten Reise zurück nach Deutschland schreibt Kracauer im Oktober 1958 an Leo Löwenthal: »Die Leute sind alle völlig formlos und unkanalisiert, sie haben kein Außen (und ein ungeordnetes Innen). Es ist alles da, aber nichts am Platz.« Wenige Jahre später notiert er auf einen der gelben Zettel, man habe das Gefühl, das Land befinde sich noch immer in ­einer Krise. Ohne ein »Leitbild« – das Wort wird bezeichnenderweise nicht übersetzt –, eine »guiding ideology« könne sich der Deutsche nicht bewegen und gehe in deren Abwesenheit geistig zugrunde.

Der mit einem umfangreichen Bildteil versehene Band gibt nicht nur Einblick in die Eindrücke eines Reisenden, der mit Europa zugleich vertraut ist und es sich immer wieder fremd macht. Darin berührt er Kracauers Beschäftigung mit der »Exotik des Alltags«, deren soziologisierende, niemals in blasse Abstrak­tion abgleitende Physiognomie seinen frühen Schriften, zuvorderst die Studie »Die Angestellten« (1929), eine geradezu haptische-erfahrbare Qualität verleiht. Zugleich scheint das Protokollarische der Reisevor- und -nachbereitungen das diffuse Gewebe des scheinbar Belanglosen, Habituellen und Gewöhnlichen festhalten zu wollen; in den Notizen taucht das Alltägliche als »small ­habits of life« auf, die sich als »solid-knitted net« auch dort erhalten, wo historische Verwerfungen Risse erzeugen. Vielleicht aber stammt das Sistierende der Aufzeichnungen gerade aus der Ahnung, für die es in Lili und Siegfried Kracauers Leben reichlich Anlass gegeben hat, dass das Alltägliche am Ende gar nicht so beharrlich ist, wie es sich dem be­obachtenden Auge auf den ersten Blick darstellt.

Siegfried Kracauer: Ideas, Talks and Some Scattered Observations. Aufzeichnungen aus Europa (1960–1965). Hrsg. von Julia Amslinger und Kyra Palberg. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022, 191 Seiten, 26 Euro