Imprint: der postanthropozentrische Realismus in Siegfried Kracauers Filmtheorie

Zerstreut, nicht einverleibt

Zur Politik eines postanthropozentrischen Realismus in Kracauers Filmtheorie und im Dokumentarfilm »Leviathan« (2012)
Imprint Von

Siegfried Kracauers Buch »Theorie des Films« (1960) schließt mit einer überraschend sentimentalen Geste. Sentimental in dem Sinne, dass sie emotional stimulierend, aber eben nicht auf die Wirklichkeit bezogen ist, sondern ein universelles Referenzmoment menschlicher Existenz aufruft, das alle konkreten Erscheinungsweisen transzendiert. Auf den beiden letzten Seiten des Epilogs zeichnet Kracauer in der Bezugnahme auf Edward Steichens Fotografieausstellung »Family of Man« (MoMA, New York, 1955) sowie auf den von der Unesco geförderten Dokumentarfilm »World Without End« (1953) von Paul Rotha und Basil Wright ein sehr versöhnliches Bild der Welt, wonach uns die fotografischen Medien einen Sinn für die Ähnlichkeit des menschlichen Ausdrucks und der alltäglichen Lebensvollzüge zwischen den entferntesten »Völkern« und unterschiedlichsten Individuen gewinnen lassen.

Diese Schlusspointe mag vor dem Hintergrund der Zeit – das heißt: dem internationalistischen Bemühen um friedliche Koexistenz sowie um einen globalen, interkulturellen und pluralen Humanismus nach den Schrecken zweier Weltkriege – zunächst nachvollziehbar und geradezu menschlich sein. Doch gehen die Erzählung von der großen menschlichen Familie und einer Welt ohne Grenzen von der idealistischen Annahme einer Substanz aus, von der aus sich alle Differenzen wenn schon nicht egalisieren, so doch relativieren ließen. Die Intuition, von einer großen Menschheitsidee auszugehen, diese enthistorisierte und dekontextualisierte Behauptung, die zwar Unterschiede ausstellt und die »Grenzen des Nivellierungsprozesses« (Kracauer) anerkennt, steht für Kracauer überraschenderweise in keinem Spannungsverhältnis zum historischen Bewusstsein und jenem realistischen Interesse an den konkreten Erscheinungen, auf das er seine filmtheoretischen Überlegungen aufbaut.

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