Ortloses Exil
Im Jahr 1967 drehte Akerman vier kurze Filme für die Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule in Brüssel. Noch im selben Jahr begann sie ihr Studium, drei Monate später war sie schon wieder weg. Akerman sah sich nicht ernst genommen, es ging ihr auch alles nicht schnell genug.
Eines Tages lieh sie sich eine Kamera und drehte mit der Hilfe eines Bekannten in einer Nacht einen Kurzfilm. »Saute ma ville« (1968), 13 Minuten lang, in Schwarzweiß und im 35-mm-Format gedreht, ist ein Katastrophenfilm der anderen Art. Akerman, gerade 18 Jahre alt, verkörpert ein Mädchen, das häusliche Tätigkeiten verrichtet und sabotiert – bis hin zur Explosion eines Gasofens.
»Nun, ich bin Jüdin. Das ist alles. Also bin ich die ganze Zeit im Exil. Wohin wir auch gehen, wir sind im Exil. Sogar in Israel sind wir im Exil.« Chantal Akerman
Die Ausstellung »Chantal Akerman. Travelling« (deutsch: Reisen), die nach ihrer ersten Station im Bozar in Brüssel* jetzt ins Pariser Jeu de Paume weitergezogen ist, lässt Akermans Filmographie nun nicht mehr mit diesem relativ bekannten Debüt beginnen, sondern mit den erst kürzlich entdeckten Bewerbungsfilmen. Im Ausstellungsraum sind jene stummen, etwa vierminütigen 8-mm-Aufnahmen nebeneinander auf einer Wand projiziert, wobei der manische Singsang in »Saute ma ville« schon leise aus dem nächsten Raum dringt. Zu sehen sind Szenen auf einem nächtlichen Jahrmarkt, die Mutter Natalia Akerman beim Schuhkauf, Akerman selbst, eine Freundin und ihre Schwester beim Schlendern durch die Straßen Brüssels, beim Abwasch am Spülbecken.
Auch wenn Setting und Stil noch ganz unter dem Einfluss der frühen Nouvelle Vague stehen – Jean-Luc Godards »Pierrot le Fou« (1965) war für Akermans Entscheidung, Filmemacherin zu werden, ausschlaggebend –, sind die Motive, die ihr Werk im Wesentlichen ausmachen, bereits angelegt: das Autoporträt, die Figur der Mutter, das Interesse an Wiederholungsstrukturen und Bewegungsabfolgen wie auch die enge Verknüpfung von dokumentarischem Blick und Inszenierung. Und nicht zuletzt der Fokus auf reproduktive Arbeit und die häusliche Sphäre, die in »Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles« (1975), der Geschichte einer Hausfrau, Mutter und Prostituierten, zum Erzählzentrum werden.
Autobiographische Grundierung von Akermans Schaffens
Die vom Bozar in Brüssel, der Chantal-Akerman-Stiftung und dem Königlichen Filmarchiv Belgiens konzipierte Schau ist die bisher umfassendste Präsentation von Akermans Werk. Man kann Stunden darin verbringen.
Entlang von Filmen und Archivmaterialien, darunter bisher noch nie gezeigte Fotos, Produktions- und Arbeitsunterlagen, zeichnet die Ausstellung den Werdegang der belgischen Filmemacherin, Schriftstellerin und Künstlerin nach. Dass in den Werkbeschreibungen Akermans Stimme in Form von Zitaten ständig präsent ist, unterstreicht die autobiographische Grundierung ihres Schaffens.
Für Akerman, 1950 als Tochter polnisch-jüdischer Shoah-Überlebender in Brüssel geboren, war die Exilerfahrung fundamental. Auch in ihren Filmen ist sie ein wiederkehrendes Thema – von »News from Home« (1976) über »Golden Eighties« (1986), »Histoires d’Amérique« (1989) und »D’Est« (1993) bis hin zu »Là-bas« (2006) und »No Home Movie« (2015).
Von Essen über Köln und Brüssel zurück nach Paris
Das Semiselbstporträt »Les Rendez-vous d’Anna« (1978) folgt einer Filmemacherin, die bei der Vorstellung ihres neuen Films von Essen über Köln und Brüssel zurück nach Paris reist. Ihr Begegnungen mit Fremden und Angehörigen schaffen keine Verbindung, rastlos bewegt sich sie sich durch Transiträume wie Bahnhöfe, Hotels, Zugwaggons – eine Figur, »der nichts von dem Raum gehört, durch den sie sich bewegt« (Akerman).
Auch in Interviews hat Akerman über das prägende Gefühl der Unbehaustheit nachdrücklich gesprochen: »Nun, ich bin Jüdin. Das ist alles. Also bin ich die ganze Zeit im Exil. Wohin wir auch gehen, wir sind im Exil. Sogar in Israel sind wir im Exil.«
Der Ausstellungstitel »Travelling« ist offener, mehrdeutiger. Er spielt nicht nur auf Akermans Unterwegssein zwischen Brüssel, Paris und New York an, der Stadt, in der sie durch die Begegnung mit dem US-amerikanischen Avantgardekino (Michael Snow, Yvonne Rainer, Andy Warhol) ihr Interesse an Struktur, Rhythmus und Zeit entdeckte und die Zusammenarbeit mit ihrer langjährigen Kamerafrau Babette Mangolte begann.
Auch die Bewegung zwischen dokumentarischer Form und Fiktion und zwischen so unterschiedlichen Medien wie Film, Fernsehen, Text und Installation lässt sich darunter fassen. Und nicht zuletzt meint »Travelling« auch ein Stilmittel, das viele ihrer Filme prägt: die Kamerafahrt.
Filmische Reise von Ostdeutschland nach Moskau
In »D’Est«, einer filmischen Reise von Ostdeutschland nach Moskau, entwickeln die streng horizontalen Fahrten vorbei an städtischen Landschaften, wartenden Menschen und Gesichtern einen geradezu hypnotischen Sog. In der Ausstellung ist der Film in Form der zwei Jahre später entstandenen Videoinstallation (»D’Est, au bord de la fiction«) auf 24 Monitoren zu sehen. Mitte der neunziger Jahre fand Akerman im Ausstellungskontext ein neues Betätigungsfeld, eine Befreiung auch von den Zwängen der Filmindustrie.
In dem für das britische Fernsehen produzierte Kurzfilm »Family Business« (1984) werden die schwierigen ökonomischen Bedingungen, mit denen die Filmemacherin in ihrer Laufbahn immer wieder konfrontiert war, zum Gegenstand einer chaplinesken Komödie. Akerman spielt eine Regisseurin, die in Los Angeles versucht, einen reichen Onkel ausfindig zu machen, der ihre Filme finanziert. Bei ihrer Suche stolpert sie über die Schauspielerin Aurore Clément, die bei der Vorbereitung auf ein Casting mit der Aussprache einiger Drehbuchzeilen kämpft.
Nur selten gehen die Blicke nach draußen, auf Begrenzungen stoßen sie selbst dann, wenn die Bewegungen weiter werden, sich nach Osteuropa, in die Weiten der USA und Mexikos erstrecken.
Akermans filmisches Werk ist so umfang- wie abwechslungsreich. Neben den langen Spiel- und Dokumentarfilmen finden sich kurze und mittellange Arbeiten, Beiträge für Episodenfilme, fürs Fernsehen, Auftragsarbeiten, Kooperationen. Was sich an ihrer Filmographie bisher nicht ablesen ließ, sind die zahlreichen unrealisierten Projekte. Einen wichtigen Platz in der Ausstellung nimmt der unvollendete Dokumentarfilm »Hanging Out Yonkers« (1973) ein, die Auftragsarbeit einer New Yorker Wohlfahrtsorganisation über ein Rehabilitationsprogramm für jugendliche Straftäter. Akerman sammelte viele Stunden Interviewmaterial, die Realisierung scheiterte jedoch an der dürftigen Tonausrüstung. Zu sehen ist das stumme Material als rund 40minütige Doppelprojektion.
In der Darstellung von Innenräumen ist Akermans Kino ganz bei sich angekommen, auch wenn sie von einem Zustand chronischer Entwurzelung zeugen. Türen, Schwellen, Fenster und Flure definieren die Einstellung und geben dem Bild eine Struktur. Nur selten gehen die Blicke nach draußen, auf Begrenzungen stoßen sie selbst dann, wenn die Bewegungen weiter werden, sich nach Osteuropa, in die Weiten der USA und Mexikos erstrecken.
Die 2015 kurz vor Akermans Tod entstandene Filminstallation »Now« folgt dagegen einer anderen visuellen Logik. Ohne Anfang und Ende verschränkt sie auf mehrere Leinwände projizierte Kamerafahrten durch schroffe Wüstenlandschaften, die mit einer fragmentarischen Soundspur unterlegt sind. Das Bild rumpelt, der Ton schreckt auf, alles scheint in Chaos und Auflösung begriffen.
Die Ausstellung »Chantal Akerman: Travelling« ist vom 28. September 2024 bis Januar 2025 in Paris in der Galerie nationale du Jeu de Paume zu sehen.
* Die Autorin hat die Ausstellung im Bozar in Brüssel besucht.