Retour au surréalisme - der Filmemacher Javier Espada widmet Luis Buñuel ein enthusiastisches Porträt

Das cineastische Gespenst der Freiheit

Der spanische Regisseur Javier Espada feiert Luis Buñuel in seinem neuen Dokumentarfilm als Leitfigur des surrealistischen Kinos. Buñuels Auseinandersetzung mit dem Elitarismus der Surrealisten geht dabei im Strudel der Bilder etwas unter. Aber Espadas Hommage hat eine wichtige Botschaft an das Kino der Gegenwart.

Wie erzählt man vom Leben und von der Arbeit ­einer Künstlerin, eines Filmemachers? Und wie, ohne jemandem zu nahe zu treten, ohne Küchenpsychologie und Seifenoper, vom Zusammenhang zwischen beidem, der daraus überhaupt erst etwas Erzählbares macht?

Der Film steigt ein in Buñuels Kindheit im spanischen Calanda zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wo auch Espada geboren und aufgewachsen ist), die frühen stereoskopischen Fotografien des Vaters, in die ersten Begegnungen mit dem Sex und mit dem Tod.

Die klassische Methode ist das Und-dann einer Biographie, die Jugend, Ausbildung, Erfahrung, Misserfolge, Durchbruch, Skandale und Rehabilitierung abhandelt und dann das Alter samt Rückblick und eventuellen Enttäuschungen zeigt. Oder man entwickelt die Erzählung mehr aus dem Werk, verfolgt Motive, analysiert Methoden, spürt Einflüssen nach und sucht nach Wirkungen.

Wenn eine Künstlerin oder ein Filmemacher selbst eine Biographie (oder anderes Textmaterial dieser Art) hinterlassen hat, wird man mit der kritischen Lektüre einen weiteren Leitfaden finden. Und dann gibt es, als Subtilstes von allem, noch eine Art von Anverwandlung in der Kritik, sagen wir: ein Film über Luis Buñuel, der selbst ein wenig funktioniert wie ein Buñuel-Film.

Beziehung zwischen Leben und Werk

Ein bisschen von alledem steckt in dem Film »Buñuel« von Javier Espada aus dem Jahr 2021, der jetzt auch in den deutschen Kinos zu sehen ist. Er steigt ein in die Kindheit im spanischen Calanda zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wo auch Espada geboren und aufgewachsen ist), die frühen stereoskopischen Fotografien des Vaters, der in Kuba sein wirtschaftliches Glück und seine Ehefrau gefunden hat, in die ersten Begegnungen mit dem Sex und mit dem Tod.

Buñuel war fasziniert von den Mysterien des Glaubens, lehnte die Religion jedoch ab

Buñuel war fasziniert von den Mysterien des Glaubens, lehnte die Religion jedoch ab

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Zitate aus seiner Autobiographie »Mein letzter Seufzer« (1982) und aus seinen Filmen sollen die Beziehung zwischen Leben und Werk noch stärker veranschaulichen. Nur ein Beispiel dafür ist die Wundergeschichte des Manns, dem ein Bein abgetrennt wurde, das dann wieder nachwuchs durch die Kraft des Gebets. Ein Motiv, das ebenso wie das der Einbeinigen aus »Tristana« (1970) oder in »Ensayo de un crimen« (1955, »Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz«) immer wieder in Buñuels Filmen aufscheint.

Die katholische Erziehung mit ihrem ständigen Bezug auf Sexualität und Tod ist im Haus Buñuel ebenso präsent wie ein liberaler Bürgergeist.

Die katholische Erziehung mit ihrem ständigen Bezug auf Sexualität und Tod ist im Haus Buñuel ebenso präsent wie ein liberaler Bürgergeist. Aus den Mythen wird Kunst, und das ist, wenn man es genau besieht, schon Blasphemie genug. Man gelangt zu Inspiratoren wie den Malern Hieronymus Bosch oder Francisco de Goya, um die Beziehungen zu vertiefen, bis zu André Bretons »Manifest des Surrealismus«. Eine Befreiung der Kunst mit Bezugspunkten zu Religion, Psychoanalyse und Marxismus.

Eine zweite Bildwelt tut sich auf in den anarchistischen Zeitschriften mit den antiklerikalen und gelegentlich obszönen Darstellungen, die ein Arzt in dem Ort, in dem Buñuel aufwuchs, bezogen hatte. Die grotesken Karikaturen dieser Blätter schrieben sich ebenso in die Vorstellungswelt des Jungen ein wie die Dokumente der Insektenforschung, für die sich der Doktor überdies interessierte. Sie sind ein weiteres visuelles Leitmotiv in den Filmen von Buñuel.

Federico García Lorca und Salvador Dalí

Während seines Studiums in ­Madrid arbeitet Buñuel als Museumsführer im Prado, wo er Besuchern aus den USA zu den dort gezeigten Bildern wilde Märchengeschichten auftischt und einfach eine eigene innere Kunstgeschichte erfindet, eine surrealistische eben. In Madrid lernt er andere Künstler seiner Generation kennen, darunter Federico García Lorca. Und Salvador Dalí. Es ist die Vor-Zeit des Bürgerkriegs, dem Lorca zum Opfer fallen wird und den Buñuel und Dali von außen betrachten werden.

1925 zog Buñuel nach Paris, um bei Jean Epstein, der sowohl ein begnadeter Filmemacher als auch ein großer Theoretiker war, Assistent zu werden. In dieser Phase entflammte nebenbei seine Liebe zu den US-amerikanischen Komödien, vor allem zu den Filmen von Buster Keaton. Es ist wohl nicht nur das Komödiantische und der eigene, vertrackte Rhythmus des avancierten Slapstick, zu dem Beschleunigung ebenso gehört wie extreme Retardierung (»slow burn«), sondern auch die spezifische Aura Keatons, der zugleich in der Welt und ganz woanders ist, die Buñuel faszinieren. Er empfindet Keaton als »sehr viel mehr surrealistisch als die Filme von Man Ray«. Gewiss, die Filme von Man Ray sind reine Kunst; Buñuel aber wollte wohl damals schon die Kunst in den Film bringen, was schon in der Theorie keine leichte Sache ist.

Luis Buñuel als junger Mann

Luis Buñuel als junger Mann

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Es waren die großen Jahre des avantgardistischen Films, aber auch die prägenden Bilder von Hans Richter und Marcel Duchamp entstanden in dieser Zeit. Eine Art der Seelenverwandtschaft zwischen Kino und surrealistischer Kunst schien sich zu zeigen. Es ist eine Entwicklung, die mit »Un chien andalou« (1929, »Ein andalusischer Hund«), entstanden nach der »automatischen Schreibweise«, ihren Höhepunkt erreicht, vielleicht gerade weil Buñuel weniger vom »Kunstwillen« als von lustvoller Provokation ausging.

Ein filmisches Denkmal

Jean Cocteau war so begeistert, dass er die Finanzierung des zweiten Films, »L‘Âge d’or« (1930, »Das goldene Zeitalter«), in die Wege leiten half. Gezeigt werden von Espada auch noch die Einflüsse des Marquis de Sade sowie Sigmund Freuds, um schließlich auf den Buñuel’schen Leitsatz zu gelangen: »Ich wollte die Vertreter der Macht angreifen und ihre ewigen Prinzipien lächerlich machen.«

Javier Espada setzt, wie man so sagt, Luis Buñuel ein filmisches Denkmal. Das heißt nicht nur, dass es nirgendwo einen kritischen Schlenker gibt, was in Ordnung ist, wenn man eben einen Film über jemanden macht, den man verehrt; es heißt auch, dass der Film Buñuels Selbstinterpretation folgt, was die Sache ein bisschen tautologisch macht.

Der Zusammenhang zwischen den nur auf den ersten Blick unterschiedlichen Werkgruppen – also die Zeit der surrealistischen Avantgarde, die Regiearbeit im mexikanischen Spielfilm, die erzieherisch-politischen Melodramen und schließlich die luxusanarchistischen, spätsurrealistischen Filme, die in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Serge Silberman in Frankreich entstanden und die als »typische Buñuel-Filme« geläufig sind – wird in dem Film fast ausschließlich aus dem Fortwirken einiger Grundmotive erklärt.

Zwar gibt es auch in den eher geradlinig wirkenden mexikanischen Filmen immer wieder Bilder und Assoziationen, die unter die Haut der Plots und der Absichten gehen. Aber es gibt einen tieferen Konflikt, eine Bruchlinie zwischen den frühen und den mexikanischen Filmen, die man durchaus hätte aufzeigen können, schließlich hatte Buñuel die surrealistische Gruppe verlassen, weil sie ihm zu elitär geworden war.

Buñuel drehte mit »Las Hurdes – Land ohne Brot« einen Film, der der spanischen Republik sozusagen von innen heraus dienen sollte und der zeigt, dass es im Kampf gegen den Faschismus nicht nur um Ideen geht, sondern vor allem um Menschen. 

Buñuels Verhältnis zur Kunst war immer auch politisch und er drehte mit »Las Hurdes, tierra sin pan« (1933, »Las Hurdes – Land ohne Brot«) einen Film, der der spanischen Republik sozusagen von innen heraus dienen sollte und der zeigt, dass es im Kampf gegen den Faschismus nicht nur um Ideen geht, sondern vor allem um Menschen. Buñuel versuchte mit dieser Arbeit, sowohl den elitären Surrealismus als auch seine eigene bürgerliche Herkunft zu überwinden und den Surrealismus politisch zu machen, nicht mehr als Kunst der Avantgarde, sondern als Kunst der Leute. In Paris zeigt er »España 1936« (1937, »Spanien 1936«), der von verschiedenen Kameraleuten im Bürgerkrieg aufgenommen wurde. Danach versucht er in den USA sein Glück, wohin er mit der Familie übersiedelt, aber als »Kommunist« keine Arbeit findet.

In Mexiko scheint ihm zu gelingen, was er in Europa nicht verwirklichen konnte: die Verbindung der Filmfabel mit den magischen und symbolischen Bildwelten. Da sind seine eigenen Obsessionen, die Zerstörung der Objekte, die Körper als Statuen und Puppen, Damenschuhe, die Tiere und die Tieropfer, die »heiligen« Riten von Blut und Tod, Transvestitismus der Männer, das »Abendmahl«, die Bauern, die Jungfrau, die Hühner, amour fou, Gewehre, böse (verrückte) Priester, der »Urschlamm«, aus dem alles kommt und in dem alles versinken muss, auch das Romantische und die Träume in den Träumen.

Immer wieder geht es um die Augen, das Sehen, den Blick

Fast immer aber auch sind seine Filme komisch, sie machen sich nicht nur über Autoritäten und über die Codes des Zusammenlebens, sondern auch über die eigenen Stilmittel lustig. Aber da ist eben auch das Surrealistische in der Alltagskultur und ihren tradierten Motiven, im kollektiven Unbewussten, in den Vermischungen von archaischen und christlichen Ritualen.

In seinen mexikanischen Filmen hat Buñuel gelernt, die surrealistischen Provokationen in mehr oder weniger normalen Handlungsläufen zu verbergen, oder umgekehrt, mehr oder weniger normale Emotionen und Beziehungen in surrealistischen Szenen fortzuschreiben. Und immer wieder geht es um die Augen, das Sehen, den (geheimen) Blick. Und das Lachen, das eher Schrecken als Lust verheißt. Es folgt der Skandal, der als Erfolg verbucht wird: »Viridiana« (1961) mit seiner Abendmahl-Travestie wird aufgrund des vatikanischen Zorns im franquistischen Spanien sofort verboten, erhält dafür in Cannes bereits im Erscheinungsjahr die Goldene Palme.

Die Freiheit ist ein Gespenst und Buñuel ist ihm nachgejagt. In seinen Filmen kann man sehen, dass die Verbindung von Kunst und Politik immer wieder scheitert und dass sie genau deshalb immer wieder neu erprobt werden muss.

In Buñuels französischen Filmen ist die Verpackung der Provokation noch tückischer, ­allerdings auch schon so attraktiv, dass der Regisseur zum Liebling der Klasse werden konnte, die er so verachtete. Dieser bietet er genügend Auswege: Es ist nur eine Geschichte, die jemand im Eisenbahnabteil erzählt – wie in »Cet obscur objet du désir« (1977, »Dieses obskure Objekt der Begierde«), es ist nur ein Traum – wie in »Le Fantôme de la liberté« (1974, »Das Gespenst der Freiheit«).

Den großen Publikumserfolg, den Buñuel mit seinen Filmen der siebziger Jahre verzeichnen konnte, verdankt er nicht zuletzt der Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière. Fünf Filme entstehen, die den Surrealismus à la Buñuel zu einem cineastischen Erfolgsrezept machen. Wohl nur Federico Fellini und Alfred Hitchcock konnten es sich zur selben Zeit leisten, die höchsteigenen Obsessionen auf die Leinwand zu bringen. (Nichts davon, vermute ich, würde die kollektive Zensur unserer Zeit überstehen, wären diese Filme nicht so deutlich »vergangen«.)

Klappe. Buñuel hatte viel Sinn für Slapstick

Klappe. Buñuel hatte viel Sinn für Slapstick

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Die Freiheit ist ein Gespenst und Buñuel ist ihm nachgejagt. In seinen Filmen kann man sehen, dass die Verbindung von Kunst und Politik immer wieder scheitert und dass sie genau deshalb immer wieder neu erprobt werden muss.

»Buñuel« jedenfalls macht (wieder) Lust auf Buñuel, und das ist schon ­etwas sehr Gutes, was man über einen Filmemacher-Film sagen kann.

Buñuel. Filmemacher des Surrealismus (Spanien 2021). Buch und Regie: Javier ­Espada. Filmstart: 10. Oktober