Die Mühelosigkeit des Traums

Zwischen republikanischem Engagement und christlichen Mythen. Zum 100. Geburtstag von Luis Buñuel.

Wer über Luis Bruñuel spricht, fängt mit dieser Szene an: Ein Rasiermesser wird über das Auge einer Frau gezogen und schlitzt es auf. Es gibt kaum eine andere Szene in der Filmgeschichte, die eine so direkte Wirkung entfaltet, selbst beim wiederholten Betrachten. Und es gibt sicherlich keine andere Szene, die so gut für immer neue Deutungen und Umdeutungen des Mediums Film geeignet scheint. Zumal der Regisseur von »Ein andalusischer Hund« im Jahr 1900 geboren wurde und mithin auch zeitlich das Medium repräsentieren kann. »Auge des Jahrhunderts« hieß dann auch die große Retrospektive in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik 1994, die sich mit dem Werk Luis Bruñuels beschäftigte.

»Ein andalusischer Hund« (1928) und dessen berühmte Augenschnitt stehen am Anfang von Bruñuels Karriere, und wer so spektakulär startet, dessen weiteres Schaffen kann leicht auf dieses Bild festgelegt werden. Die fortwährende Rekonstruktion des großen Erfolgs zu liefern, kann zum Thema der weiteren Arbeiten werden. Luis Bruñuel haben diese Erwartungen nicht belastet. Sich ausdrücken zu wollen, diese Künstler-Attitüde war ihm völlig fremd. Die Überzeugungen der Surrealisten, die theoretisch zu fassen sich André Breton, Louis Aragon oder Philippe Soupault bemühten, waren ihm selbstverständlicher Wesenszug. Seine Arbeit war immer so etwas wie das »automatische Schreiben«, mit dem sich die Gruppe vom Diktat der Vernunft befreien wollte. Später drehte Bruñuel einen Film manchmal in nur zwei Wochen herunter, er war unfähig zur Drehbucharbeit und wartete oft nur darauf, dass es endlich 18 Uhr wurde und er seinen ersten Aperitif trinken konnte.

Auf diese mühelose Weise entstand sein künstlerisches Werk, und auch das war Bruñuel ziemlich egal. Schon der Augenschnitt in »Ein andalusischer Hund«, in Zusammenarbeit mit Salvador Dal' entstanden, war nicht als unendlich ausdeutbares Symbol angelegt, sondern war einer jener visuellen Gesten, wie sie Bruñuel so liebte. Jenseits von Deutungsmustern wie »Kastrationsangst«, »Anti-Kartesianismus« oder »Angriff auf das Dispositiv« wollte er nur eine literarische Metapher mit den Mitteln des Films wörtlich nehmen: Ein Mann steht abends auf dem Balkon, betrachtet den Himmel und sieht dabei, dass »eine Wolke über den Mond zieht wie ein Rasiermesser über einen Augapfel«. Nichts weiter.

Es hat Bruñuel auch nicht irritiert, dass er nach dem Anfangserfolg von »Ein andalusischer Hund« und »Das Goldene Zeitalter« (1930) für viele Jahre wieder aus dem Licht der Öffentlichkeit verschwand. In den dreißiger Jahren arbeitete er als Produzent in Spanien und zeichnete für kommerzielle Melodramen verantwortlich; während des Bürgerkriegs arbeitete er im Exil gegen das Franco-Regime, im Zweiten Weltkrieg war er im Archiv des Museum of Modern Art in New York beschäftigt, bevor es ihn schließlich nach Mexiko verschlug, wo er wieder mit kommerziellen Filmen begann. Dass er 1951 mit dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes für den Film »Die Vergessenen« mit einem Schlag wieder auf die Bühne der internationalen Filmkunst geholt wurde, schien ihn ebenso wenig zu beeindrucken. Unbekümmert drehte er daraufhin im Halbjahrestakt einen kommerziellen Film nach dem anderen, Komödien und Melodramen, die erst später Beachtung fanden.

Dass er immer noch einen Skandal produzieren konnte, der den surrealistischen Schock-Erfolgen Anfang der Dreißiger gleichkam, bewies Bruñuel 1961 mit »Viridiana«. Schon die Ankündigung, dass der Exil-Spanier einen Film im Land der Franco-Diktatur drehen werde, sorgte für erheblichen Aufruhr. Bruñuel wurde als Verräter beschimpft, was ihm ebenso wenig ausmachte wie die ständigen Änderungswünsche der Zensurbehörde für sein Drehbuch. In Kenntnis eines unverfänglichen Drehbuchs reiste die spanische Delegation zur ersten Vorführung des fertigen Filmes nach Cannes, wo er als offizieller Beitrag Spaniens gezeigt wurde und das Regime schmücken sollte.

Fassungslos mussten die Delegierten dort jedoch Bilder zur Kenntnis nehmen, die sofort den Vorwurf der Blasphemie provozierten und ein Verbot des Films in Spanien, Belgien, der Schweiz und Italien zur Folge hatten. Auch in Deutschland durfte nur eine um die anstößigen Szenen gekürzte Fassung gezeigt werden, deren Kopien auch heute noch in den Programmkinos verwendet werden. Die Goldene Palme gebührte dann auch voll und ganz Bruñuel. Der Film, dessen Produktion in Spanien zunächst wie eine späte Reverenz an Franco wirken musste, wurde zum größten Skandal seit »Das Goldene Zeitalter« und festigte den Ruf des Regisseurs als Provokateur. Zugleich wurde die Popularität des Films durch das Verbot noch verstärkt, in Spanien wurden Busreisen nach Südfrankreich angeboten, die einen Einkaufsbummel sowie eine Vorführung von »Viridiana« einschlossen.

Ähnlich ambivalent verhielt es sich mit Bruñuels größtem kommerziellem Erfolg, »Belle de Jour - Schöne des Tages« von 1966. Es ist von heute aus gesehen kaum nachvollziehbar, dass dieser Film mit seiner hochkomplexen Erzählstruktur so viele Menschen in die Kinos gezogen hat. Phantasie und Realität sind hier so ununterscheidbar miteinander verwoben, dass eine Entschlüsselung dessen, was dort eigentlich passiert, unmöglich ist. Für psychoanalytische oder poststrukturalistische Interpretationen ein Glücksfall, aber für den Zuschauer?

Bruñuel hatte für die Popularität des Films eine einfache Erklärung: Der Erfolg von »Belle de Jour« sei nicht auf seine Regieleistung zurückzuführen, sondern auf die Prostituierten im Film. Der Bordellbetrieb und Catherine Deneuve als Prostituierte, das übte in den sechziger Jahren eine ungeheure Anziehungskraft auf das Publikum aus. Dass man die Handlung des Films nicht verstehen konnte, war deshalb keine Abschreckung. Das Kino, bewies Bruñuel einmal mehr, lebt von seinen Bildern und ihren Wirkungen, die aber nichts mit den Absichten des Regisseurs zu tun haben müssen.

Hatte das breite Publikum den vermeintlichen Avantgardisten und Experimentator schon akzeptiert und vereinnahmt, so erkannten ihn schließlich auch die Institutionen der kommerziellen Kinowirtschaft an. 1972 erhielt Bruñuel den Oscar für »Der diskrete Charme der Bourgeoisie«, dessen Titel ebenso wie »Dieses obskure Objekt der Begierde« zu einem Gemeinplatz werden sollte. Zur Preisverleihung erschien Bruñuel mit einer wasserstoffblonden Perücke und Sonnenbrille und erfüllte damit genau die an ihn gestellten Erwartungen.

»Der diskrete Charme der Bourgeoisie« über eine Gruppe von Großbürgern, die immer wieder am Essen gehindert wird und ausgehungert durch eine Reihe von absurden Szenen rennen muss, traf den Zeitgeist. Dasselbe Publikum, das im Fernsehen »Monty Pythons's Flying Circus« goutierte, ging auch in die Programmkinos, um einen der Väter dieses Humors zu feiern. Der Happening-Charakter der politischen Betätigung in dieser Zeit fand sein konsumierbares künstlerisches Äquivalent in diesen Fernseh-Satiren.

Bruñuel drehte danach nur noch zwei Filme, »Das Gespenst der Freiheit«, womit er in gewisser Weise versuchte, an den Erfolg von »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« anzuknüpfen, und die originelle Neuverfilmung von Pierre Louÿs »La Femme et le pantin« unter dem Titel »Dieses obskure Objekt der Begierde« im Jahr 1977.

Noch wusste er nicht, dass dies sein letzter Film sein würde, aber er scheint wie geschaffen, das filmische Îuvre Bruñuels zu beschließen: Der Film endet mit einer Explosion in der Pariser Passage Jouffroy, in der sich das Hotel Ronceroy befand, wo Bruñuels Eltern ihre Flitterwochen verbrachten und nach eigenen Angaben Luis gezeugt haben wollen. Die Atomisierung des Ursprungsortes der eigenen Existenz ist ein zu schöner Schlusspunkt, ein viel zu guter Kalauer, als dass Bruñuel dies hätte ignorieren und weiterdrehen können.

Als der Regisseur sein Augenlicht fast vollständig verloren hatte, musste er die Filmarbeit aufgeben. Stattdessen zitierte er seinen langjährigen Drehbuchautor herbei, um ihm seine hinreißende Autobiografie »Mein letzter Seufzer« zu diktieren und ihn mit den Ausgestaltungsformalitäten des Manuskripts alleine zu lassen. Der Titel deutet schon auf die Nähe des Todes hin, die Bruñuel gespürt haben muss; ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches, 1983, starb er. Zugleich verdeutlicht der ironische Gestus noch einmal, dass sich Bruñuel bis zum Schluss von nichts beeindrucken ließ, noch nicht einmal vom Tod.

»Wenn ich wüsste, daß ich nur noch einen Tag zu leben hätte«, so hat er gesagt, »würde ich sechs Stunden schlafen und achtzehn Stunden lang träumen.« Mit dieser Haltung hatte er Filme machen können, die ebenso frei von Ambitionen und Anstrengung waren wie dieses Träumen und das Warten auf den Aperitif am Abend. Am 22. Februar wäre Luis Bruñuel 100 Jahre alt geworden.

Der WDR zeigt am 23. Februar Bruñuels Film »Viridiana«, das ZDF am 24. Februar »Dieses obskure Objekt der Begierde«.