Die polnische Regierung erwartet von Deutschland mehr als Reden zu Gedenk­tagen

Schwieriges Gedenken

Zum 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands gegen die NS-Besatzer hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Warschau eine Rede gehalten. Damit allein wird sich die polnische Regierung nicht zufriedengeben.

»Wir beweinen die Stunde, als alles begann, als der erste Schuss fiel« – mit dieser Zeile beginnt das Gedicht »Der letzte polnische Aufstand« der polnischen Dichterin Anna Świrszczyńska aus dem Jahr 1974. Gemeint ist die »Stunde W«; so lautete der Deckname für den Beginn der Kämpfe gegen die deutsche Besatzung in Warschau. Am 1. August 1944 um 17 Uhr begann der Warschauer Aufstand, koordiniert durch die polnische Exilregierung in London und die Untergrundorganisation Armia Krajowa (Heimatarmee, AK). Etwa 40.000 Kämpfer:innen der AK sowie nationalistischer und auch linker Untergrundverbände versuchten 63 Tage lang, die Stadt zu befreien.

Ursprünglich hatte die Erhebung nur wenige Tage dauern sollen: Die AK wollte den kurz vor Warschau stehenden sowjetischen Truppen aus einer Position der Stärke begegnen; auch um das Bild einer »sowjetischen Befreiung« Warschaus zu vermeiden. Zur Bündelung der Kräfte von Roter Armee und AK kam es jedoch nicht. Die sowjetischen Truppen hatten kurz zuvor östlich von Warschau herbe Verluste in Kämpfen gegen die Wehrmacht hinnehmen müssen. Die Führung der Roten Armee zögerte außerdem aus politischen Motiven, den polnischen Widerstand militärisch zu unterstützen. Wie schwer diese einzelnen Faktoren jeweils wogen, darüber herrschen bis heute in Polen historiographische Kontroversen – ebenso wie über die Sinnhaftigkeit des bewaffneten Aufstands an sich.

Die polnische Regierung besteht nicht auf Reparationsforderungen aufgrund der Ausplünderung des Landes im Zweiten Weltkrieg, erwartet aber von Deutschland materielles und symbolisches Entgegen­kommen.

Während der zweimonatigen Kämpfe fielen rund 15.000 Kombattant:in­nen, 150.000 Zivilist:innen kamen ums Leben. Ein Drittel von diesen ermordete die SS zwischen dem 5. und 12. August 1944 im Stadtteil Wola bei einem Massaker: eine gezielte Vernichtungsaktion der Deutschen, die dazu dienen sollte, die Moral der Aufständischen zu brechen. Sie stand auch im Kontext der deutschen Besatzungsherrschaft im östlichen Europa, die darauf abzielte, die als »rassisch minderwertig« verstandene slawische Bevölkerung zu unterdrücken und auszubeuten. Am Ende des Aufstands hatten die deutschen Besatzer 85 Prozent der Stadt zerstört.

80 Jahre später, am 31. Juli, besuchte Frank-Walter Steinmeier als zweiter deutscher Bundespräsident (nach Roman Herzog 1994) die Gedenkfeierlichkeiten zum Warschauer Aufstand. In seiner Rede bat er um Vergebung und betonte den Wert der deutsch-polnischen Freundschaft angesichts des Leids, das Deutschland Polen zugefügt habe. Nicht zuletzt appellierte Steinmeier an die gemeinsame Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda nahm in seiner Ansprache ebenfalls darauf Bezug. Eine Lehre aus dem Aufstand sei, dass man als Teil der »freien Welt« keine ­Besatzung hinnehmen könne, »egal ob es sich um eine deutsche, sowjetische oder russische Besatzung handelt«. Und auch der Stadtpräsident Warschaus, Rafał Trzaskowski von der liberalen Bürgerplattform (PO), nutzte die Gedenkfeierlichkeiten, um den Widerstand gegen die deutschen Besatzer auch als Zeichen der »Ablehnung des kommunistischen Systems« zu thematisieren.

Alternative zum nationalistischen Aufmarsch

Ganz so einheitlich sieht die polnische Erinnerung in Hinblick auf den Warschauer Aufstand jedoch nicht aus. Das zeigt sich auch an den zwei getrennten Gedenkmärschen, die dieses Jahr wie schon in den Vorjahren am 1. August in Warschau stattfanden. Bereits zum achten Mal wurde beim »Marsch des Schweigens« vor allem der zivilen Opfer der deutschen Niederschlagung des Warschauer Aufstands gedacht. Als Schirmherrin fungiert Wanda Traczyk-Stawska, die als 17jährige am Aufstand teilnahm und sich in den vergangenen Jahren häufig gegen die Geschichtspolitik der bis 2023 regierenden nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) ausgesprochen hatte.

Das stille Gedenken hatte sich als Alternative zum nationalistischen Aufmarsch entwickelt, der ebenfalls seit ­einigen Jahren regelmäßig in der Warschauer Innenstadt stattfindet und von polnischen Nationalsymbolen, Pyrotechnik und rechtsextremen Parolen geprägt ist. Dieses Jahr fand diese Demonstration unter dem Motto »Der Deutsche wird uns nicht ins Gesicht spucken« statt. Das Zitat stammt aus dem patriotischen Gedicht »Rota« von Maria Konopnicka aus dem Jahr 1908, das sich auf die Unterdrückung beziehungsweise Zwangsgermanisierung der Polen durch Preußen bezog und in nationalkonservativen Kreisen häufig als inoffizielle Nationalhymne angesehen wird.

Ähnliche Töne hatten auch die von PiS geführten Regierungen gegenüber Deutschland angeschlagen. Ein Höhepunkt der diplomatischen Spannungen war erreicht, als der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński 2022 von Deutschland 1,3 Billionen Euro Kriegsrepara­tionen forderte. Die Bundesregierung hat die Zahlung mit Verweis auf internationale Nachkriegsabkommen stets abgelehnt.

Kritik in der polnischen Öffentlichkeit

Mit Antritt der Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk von der PO im Dezember sollten die Beziehungen beider Länder sich wieder entspannen. Ein wichtiger Schritt hätten die Regierungskonsultationen im Juli dieses Jahres sein sollen, zu denen der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit zwölf Minister:innen und großen Hoffnungen gefahren war. Das Ergebnis der gemeinsamen Beratungen fiel allerdings reichlich unkonkret aus: 40 Seiten »Aktionsplan« mit kaum einer eindeutigen Zahl sorgten vor allem in der polnischen Öffentlichkeit für Kritik.

Die Regierung Tusk besteht zwar nicht auf den Reparationsforderungen, erwartet aber von Deutschland ein klares materielles und symbolisches Entgegenkommen. Dazu ­gehören neben Entschädigungszahlungen für Opfer der deutschen Besatzung und erinnerungspolitischen Projekten wie dem geplanten Deutsch-Polnischen Haus in Berlin auch gemeinsame Verteidigungsinves­titionen zur Sicherung der Nato-Ostflanke.

Tusk darf innenpolitisch nicht als zu »germanophil« erscheinen – weiterhin der Hauptvorwurf seiner politischen Konkurrenz von PiS – und will zudem die Rolle Polens in der EU als gleichberechtigter Partner demonstrieren. Die ­polnische Regierung dürfte sich deshalb auch in Fragen der Erinnerungs­politik nicht mit einem Bundespräsidentenbesuch abspeisen lassen.