Brunello Mantelli, Faschismusforscher, im Gespräch über rot-braune Tendenzen in der italienischen Linken seit dem 7. Oktober

»Es formiert sich eine antimoderne Linke«

Die antiisraelischen Proteste an den Universitäten in Italien erinnern ihn an die Methoden faschistischer Milizen in der Ära des Squadrismus (1919–1923). Ein Gespräch mit dem italienischen Faschismusforscher Brunello Mantelli über rot-braune Tendenzen in der italienischen Linken und Konflikte in der ANPI, dem landesweiten Partisanenverband, seit dem 7. Oktober 2023.

Seit einigen Wochen rufen Studentenorganisationen an italienischen Universitäten zu einer »studentischen Intifada« auf, um Protestcamps »für ein freies Palästina« zu errichten. Wie schätzen Sie das Geschehen ein?
Es ist eine Mischung aus organisierter und spontaner Bewegung. Zum einen spielen kleinen Gruppen wie die studentisch geprägte kommunistische Jugendorganisation Cambiare Rotta eine Rolle. Sie schaffen es, Räume an den Universitäten ohne großen Widerstand zu besetzen. In Turin war mit dem Palazzo Nuovo ein zentraler Standort der Universität über mehrere Wochen besetzt. Die Mehrheit der Studenten hat daran kein Interesse, aber die Univer­sitätsleitung hat die Besetzung von Beginn an toleriert. Selbstverständlich haben auch diese Gruppen das Recht, ihre Meinung zu äußern, aber dass die Universität die Besetzung ihrer Gebäude duldet, ist doch verwunderlich. Diese Toleranz lässt sich sicherlich auch damit erklären, dass einige Verantwortliche die Behauptung der Besetzer teilen, wonach Israel einen Genozid in Gaza ­verübe.

Seit Jahrzehnten gab es keine vergleichbaren Proteste an italienischen Hochschulen. Warum lässt sich ausgerechnet gegen Israel ­derart mobilisieren?
Die Identifikation mit dem Kampf der Palästinenser gegen Israel, lässt sich in der italienischen Linken auf verschiedene Verirrungen zurückführen. Neben einem tief verwurzelten Antisemitismus spielt dabei der Antiamerikanismus eine zentrale Rolle. Diese ideologischen Traditionen haben ihre Ursprünge in den Zeiten des Kominform, als die Kommunistische Partei Italiens (KPI) und ihre Zeitungen die Sowjetpropaganda des Kalten Kriegs reproduzierten. In dieser Logik strebten die Sowjetunion, ihre Verbündeten und weite Teile der »Dritten Welt« nach Frieden, während die USA und der Westen ein Interesse an Krieg hätten. Diese Vorstellung hat sich in die italienische Linke eingeprägt. Auch die außerparlamentarische Opposition der siebziger Jahre hat dieses Ressentiment weitergetragen. Ich war damals Mitglied der Gruppe Lotta Continua. Schon damals war der Haupt­irrtum, die Vereinigten Staaten mit dem Bösen zu identifizieren und für all jene Partei zu ergreifen, die sich gegen die USA stellten. Im Italienischen bezeichnet man dieses duale Weltbild als campismo, also die Einteilung der Welt in zwei entgegengesetzte Lager – campi – von gut und böse.

Wie zeigen sich diese Tendenzen seit dem 7. Oktober?
Ich denke tatsächlich, dass wir hier eine neue Dimension beobachten. Es gab in der italienischen Linken schon in den siebziger und achtziger Jahren eine Idealisierung der palästinensischen Bewegung. Man unterstützte damals aber vorwiegend säkulare Gruppen wie die PFLP, später zum Teil auch die Fatah. Bei Lotta Continua war eine Zweistaatenlösung die gängige Forderung. Zu dieser Zeit gab es sicherlich auch schon eine weit verbreitete antiisraelische Haltung, es sprach unter Linken aber kaum jemand von einem Palästina »from the river to the sea«, weil für die überwiegende Mehrheit die Existenzberechtigung Israels nicht zur Diskussion stand. Das ist nun anders. Bei den Protesten an den Universitäten werden ein vollständiger aka­demischer Boykott Israels und ein palästinensischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan gefordert.

»›Zionistische Entität‹ ist ein Begriff, den in Italien lange Zeit nur Nazi-Sympathisanten und Radikal­faschis­ten für Israel benutzt haben. Heute hört man ihn von Gruppen, die sich selbst als links verstehen.«

Sie haben einer Stellungnahme mit anderen Professoren und Hochschullehrern gegen diese Forderungen veröffentlicht. Darin beschreiben sie, dass viele Aktivisten nicht mehr von Israel sprechen und stattdessen Begriffe wie entità sionista, zionistische Entität, verwenden.
Ich finde diese Entwicklung bemerkenswert, weil das ein Begriff ist, den in ­Italien lange Zeit nur rechtsextreme Gruppen benutzt haben. Das waren Nazi-Sympathisanten und Radikalfaschisten. Heute hört man diese Bezeichnung von Gruppen, die sich selbst als links verstehen. Der Gedanke dahinter ist, dass es keinen legitimen Staat Israel gibt und man deswegen auch nicht so von ihm sprechen dürfe. Wir haben es hier aber auch mit einer gewissen Doppelkommunikation zu tun. In offenen Briefen, die auch Universitätsprofessoren unterschrieben haben, ist die Rede von Kritik an der israelischen Regierung. Aber auf Flugblättern, die bei Protesten verteilt werden, wird der antisemitische Begriff der »zionistischen Entität« verwendet. Hinter ­einer offiziell vorgetragenen »Israelkritik« verbirgt sich hier ideologisch zweifellos die grundsätzliche Delegitimierung eines jüdischen Staats.

Spielen rechte oder islamistische Gruppen in der Mobilisierung auch eine Rolle? Kommt es in Italien zu ­einer antiisraelischen Querfront?
Es lässt sich durchaus ein Zusammenschluss von linkem Aktivismus mit dem politischen Islam beobachten. In Turin hat sich ein Imam den Protesten an der Universität angeschlossen. Er bestand bei Gebeten auf der Trennung von Männern und Frauen in den Universitätsräumen. Im Zuge dieser Verstrickung haben sich auch nichtmuslimische italienische Frauen verschleiert. Es gibt in Turin mehrere muslimische Gemeinden, die moderat und demokratisch ausgerichtet sind. Bei der Besetzung der Universität hat aber die fundamentalistische Moscheegemeinde eine tragende Rolle gespielt. Hier formiert sich eine an­timoderne Linke. Die theoretischen Instrumente, die man wider die Moderne benutzt, kommen aus der ­ex­tremen Rechten. Ich finde die Bezeichnung rosso-bruno (rot-braun) für diese Teile der Linken daher treffend. Es handelt sich um Leute, deren intellektuelle Herangehensweise näher an Alexander Dugin ist als an Marx. Natürlich beteuern sie, links zu sein, viele ihrer Gedanken haben ihren Ursprung aber in der radikalen Rechten.

»Die Universität von Mailand hat eine wissenschaftliche Veranstaltung abgesagt, weil man Angst vor der gewalttätigen Störung durch propalästinensische Gruppen hatte. Das ist inakzeptabel.«

In Ihrer öffentlichen Erklärung ­schreiben Sie von Methoden, die an faschistische Milizen erinnern, die sich in der antiisraelischen Bewegung erkennen ließen. Was meinen Sie damit?
Ihr Auftreten unterscheidet sich von Protesten, die man in Italien aus den vergangenen Jahren kannte. In erster Linie ist da das laute Stören von Veranstaltungen. In diesen Störaktionen ging es keineswegs darum, die eigene Meinung zu äußern oder eine Debatte auszulösen. Ziel war es von vornherein, einen Austausch zu unterbinden und keine unliebsamen Positionen ­zuzulassen. Die Universität von Mailand hat eine wissenschaftliche Veranstaltung abgesagt, weil man Angst vor der gewalttätigen Störung durch propalästinensische Gruppen hatte. Das ist inakzeptabel.

Wie sehen solche Störungen aus?
Der Vandalismus an den besetzen Universitäten ist auffällig. In der Univer­sität La Sapienza in Rom konnte ich mir selbst ein Bild der Zerstörung durch die Besetzer machen. Die konkreten Forderungen werden dabei stets vor dem Hintergrund dieser Drohkulisse vorgebracht. Den akademischen Boykott ­Israels zu fordern, ist eine Sache. Die nächste Ebene besteht allerdings darin, alle diejenigen, die diese Forderung nicht teilen, als Zionisten und Feinde zu markieren. Diese Leute, häufig Mitarbeiter und Professoren an den Universitäten, werden dann öffentlich diffamiert, ihre Büros verwüstet. Einem Kollegen aus der Fakultät für Physik ist genau das passiert. Er hat in einem Gremium gegen den Boykott-Antrag gestimmt, woraufhin sein Büro mit der Parole »zionistischer Verbrecher« ­beschmiert wurde. Das ist Squadrismus (von squadri d’azione, dem Namen der faschistischen Milizen, die von 1919 bis 1923 Mussolinis Machtübernahme vorbereiteten; Anm. d. Red.). Besonders erschreckend finde ich in diesem Zu­sammenhang auch die seit dem 7. Oktober wiederholt geäußerten Aufforderungen an italienische Juden, sich zu Israels Verteidigungskrieg zu verhalten. So forderte man von der Senatorin und Auschwitz-Überlebenden Liliana Segre, nicht über die Shoah zu sprechen, ohne gleichzeitig auch Israels Politik zu verurteilen.

Am 25. April, dem Tag der Befreiung Italiens, kam es zu Anfeindungen gegen das Gedenken an den jüdischen Widerstand. Auch in der italienischen Partisanenvereinigung ANPI gab es immer wieder Konflikte über das Gedenken an jüdische Partisanen und deren Verhältnis zum Zionismus.
Die Polemik gegen die jüdische brigata ebraica, die als Einheit der British Army ab 1944 im Italien-Feldzug kämpfte, dauert nun schon einige Jahre an. Die ANPI versuchte lange Zeit, eine ver­mittelnde Rolle einzunehmen. Nach dem 7. Oktober relativierte die Organisation dann aber sehr schnell die bru­talen Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten in Israel und verharmloste dabei auch die Hamas. Das führte zu Konflikten innerhalb der Organisation. Der Vorsitzende des Mailänder Lokalverbands, Roberto Cenati, trat zurück, weil er mit der antizionistischen Linie nicht einverstanden war.

»Die altlinken Ideologien, die eigentlich überholt schienen, ­haben es geschafft, sich wieder fest zu etablieren.«

Bei der ANPI gibt es kaum mehr überlebende Partisanen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Führungskreise stammen aus dem Milieu der KPI und einer ihrer Nachfolgeparteien, dem Partito dei Comunisti Italiani (PdCI). Der ANPI-Vorsitzende Gianfranco Paglia­rulo stammt noch aus dem stalinistischen KPI-Flügel. Dieses Milieu und antiwestliche Ressentiments haben auch außerhalb der ANPI noch großen Einfluss auf die italienische Linke. Prominentes Beispiel ist der Philologe Luciano Canfora, der sich erst gegen die Ukraine und nun gegen Israel positionierte. Canfora hält die Sowjet­union unter Stalin für einen sozialistischen Staat. Seine Thesen finden in der jungen Generation linker Antizionisten große Verbreitung. Die altlinken Ideologien, die eigentlich überholt schienen, ­haben es geschafft, sich wieder fest zu etablieren. Die Stellungnahmen der italienischen Linken zum russischen Überfall auf die Ukraine und dem ter­roristischen Angriff der Hamas auf Israel beweisen, dass man seit den sieb­ziger Jahren nichts dazu­gelernt hat.

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Brunello Mantelli

Brunello Mantelli

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privat

Brunello Mantelli lehrt an der Universität Turin Neueste Geschichte mit den Schwerpunkten Vergleichende Faschismusforschung und deutsch-italienische Geschichte. Ab 1969 war er Mitglied der außerparlamentarischen Organisation Lotta Continua, arbeitete für deren gleichnamige Zeitung und andere linke Publikationen. Sein Buch »Kurze Geschichte des italienischen Faschismus« ist 1998 in deutscher Übersetzung beim Verlag Klaus Wagenbach erschienen.