Jeff Nichols Film »The Bikeriders« über eine Motorradgang in den Sechzigern

Das Kino in seinem Element

Der Regisseur der Südstaaten: Jeff Nichols dreht seit Jahren Filme über die US-amerikanische Landbevölkerung, teils mit kleinem Budget. Für seinen neuen Film »The Bikeriders« über eine Motorradgang hat er sich als Schauplatz allerdings Chicago ausgesucht. Im Gespräch mit der »Jungle World« erzählt er davon, wie sich das Kino vom Alltagsleben entfernt hat und was ihn am »ästhetischen ­Eigensinn« der Biker fasziniert.

Wenn man einen Film von Jeff Nichols anschaut, dann entdeckt man ein US-amerikanisches Kino, von dem man glaubte, dass es gar nicht mehr existiert. Es ist ein Kino der Arbeiterklasse und der Landbevölkerung, wie es sich in den Filmen von Elia Kazan, Martin Ritt und Nicholas Ray präsentiert – großen Regisseuren des klassischen Hollywood, für die Genuss und Kritik im Kino in eins fielen. Regisseure, die der working class in ihren Filmen viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme entgegenbrachten, um ihr gewissermaßen die historische Wartezeit zu verkürzen: Bevor das Proletariat die ganze Welt gewinnt, sollte es bereits das Kino ein für alle Mal in Besitz nehmen.

Diese Tradition greifen die Filme des in Arkansas aufgewachsenen und mittlerweile in Texas lebenden Jeff Nichols wieder auf, denn die Zeiten sind nicht besser geworden – härter eher, aussichtsloser. Es sind Bauarbeiter und Farmer aus dem Süden, die seine Filme bevölkern: Fischer, verliebte Rächer auf der Flucht und erfahrungshungrige Jungs von den Ufern des Mississippi. Wenn Nichols Protagonisten ein Kernthema umtreibt, dann dieses: Wie kann man einer übermächtigen geschichtlichen Entwicklung begegnen, welche einem die Lebensgrundlage unter den Füßen wegzieht? Wie begegnet man dem Unrecht, das sich womöglich vor der eigenen Haustür abspielt und bei dem sich die Besitzenden über die Interessen derer hinwegsetzen, die weniger haben?

»Filme müssen groß sein, aber nicht bloß auf einer visuellen oder technischen Ebene, sondern auch auf einer emotionalen Ebene.« Jeff Nichols

Die Antwort, die Nichols findet, ist keine einfache, denn sie erfordert Rückgrat und Charakter: die Bereitschaft, sich das Mitmachen zu versagen und Widerspruch einzulegen gegen den Gang der Dinge – auch wenn man sich damit selbst in Gefahr bringt. Während des Interviews mit der Jungle World kommt Nichols, ganz in Denim gekleidet, schnell auf das spezifische Selbstverständnis und das Klassenbewusstsein seiner Heimat zu sprechen: »Der Süden ist ein wunderschöner und zugleich ein komplizierter Ort. Die Menschen dort, und damit meine ich die ländliche working class, sind auf ihre Weise die größten Künstler, die größten Musiker und die talentiertesten Geschichtenerzähler überhaupt. Ihre Ansichten zu manchen Dingen können teilweise wiederum herausfordernd sein. Gleichwohl würde ich niemals irgendwo anders leben wollen. Diese Widersprüche treiben mich eben um. Wer weiß, vielleicht haben reiche Leute ja ähnliche Probleme, ich kenne bloß nicht viele.«

Er fügt hinzu: »Der Dichter W. B. Yeats hat die Iren einmal als noble Verlierer bezeichnet. Bei uns Leuten aus dem Süden ist es ähnlich, nicht bloß historisch betrachtet, weil der Süden den Bürgerkrieg verloren hat. Verantwortung zu übernehmen, ist im Süden unheimlich wichtig. Das war so, als ich hier aufgewachsen bin, und so ist es immer noch, jetzt, da ich Ehemann und Vater bin. Es geht darum, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse adäquat antworten zu können – und im Zweifelsfalle auch Dinge nicht durchgehen zu lassen.«

Debütfilm mit umwerfenden Darstellern

Nichols grandioser Debütfilm »Shotgun Stories« von 2007 handelt von einer blutigen Familienfehde zwischen zwei Gruppen von Halbbrüdern. Die einen stammen vom schlechteren, die anderen vom besseren Ende der Stadt. Und obgleich der älteste der drei armen Brüder schon weiß, was er mit seinen Worten anrichten wird, entscheidet er sich trotzdem dazu, auf dem Begräbnis des gemeinsamen Vaters auf­­zukreuzen und den Anwesenden zu erklären, dass der Verstorbene kein guter, sondern ein bigotter und kaltherziger Mann gewesen sei – weil die Wahrheit wichtiger ist als der Burgfrieden in der Stadt.
Es ist ein wunderschön fotografierter Film mit umwerfenden Darstellern, trotz oder auch wegen seines geringen Budgets von 250.000 US-Dollar. 

Hauptdarsteller Michael Shannon mit seinem Stoizismus und seiner lodernden Wut wurde zum Stammschauspieler von Nichols. So auch im vielgepriesenen Nachfolger »Take Shelter« von 2011, einem Drama über eine proletarische Familie, das zugleich Züge eines ökologischen Katastrophenfilms trägt.

Die Gewalt nimmt überhand. Kathy (Jodie Comer) und Benny (Austin Butler) sind  besorgt

Die Gewalt nimmt überhand. Kathy (Jodie Comer) und Benny (Austin Butler) sind  besorgt

Das Kino, wie Jeff Nichols es versteht, bedeutet eben auch (und das ist eine Seltenheit heutzutage), dass die Ideen und der ästhetische Erfahrungsreichtum eines Films um ein Vielfaches größer sein müssen als die Produktionskosten. Ist es umgekehrt, hat man auf ganzer Linie versagt. Für den jungen Nichols wurden die Kinobesuche und die anschließenden Gespräche mit seinem Vater in Little Rock zu einer regelrechten Filmschule. Zwei Filme hinterließen dabei besonderen Eindruck: der verhältnismäßig günstige und gewalttätige »Pale Rider« von Clint Eastwood aus dem Jahre 1985 und David Leans Monumentalfilm »Lawrence of Arabia« von 1962.

»In diesen Momenten wurde mir klar, wie wichtig die Skalierung beim Filmemachen ist«, erzählt Nichols im Interview. »Filme müssen groß sein, aber nicht bloß auf einer visuellen oder technischen Ebene, sondern auch auf einer emotionalen Ebene. Das versteht Hollywood bisweilen falsch. Ich hatte kein Geld, als ich ›Shotgun Stories‹ drehte, aber ich wollte, dass der Film sich riesig und wie ein Panorama anfühlt – ein Anti-Western, die Fruchtlosigkeit der Rache. Mangelndes Budget sollte einen als Filmemacher niemals ­davon abhalten, gewisse Stoffe oder Themen anzugehen.«

Kino, bei dem etwas auf dem Spiel steht

Das Resultat ist ein Kino, bei dem tatsächlich etwas auf dem Spiel steht. Nichols nächste drei Filme, »Mud« (2012), »Midnight Special« und »Loving« (beide 2016), spielen das Motiv einer physischen und gleichermaßen politischen Rettung in letzter Sekunde durch. »Mud«, das heimliche Meisterwerk in Nichols Filmographie, huldigt dem großen Strom des Mississippi sowie den Menschen, die an seinen Ufern ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. Das von der Fischerei lebende Proletariat wird hier als vaterlos geschildert, tatsäch­liche Elternfiguren müssen erst noch gefunden werden.

»Midnight Special« vereint die Sci-Fi-Phantasmen eines Steven Spielberg mit dem Tempo des Roadmovies: Ein Junge mit übersinnlicher Begabung muss hier vor einer reaktionären Sekte fliehen. Zu guter Letzt kommen sogar, angenehm zurückhaltend ein­gesetzt, Elemente der platonischen Ideenlehre zum Tragen.

»Loving« wiederum erzählt basierend auf einer wahren Geschichte von der Ehe zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau im Virginia der sechziger Jahre.

Furiose Darbietung als Elvis Presley

Nichols’ Filme kann man also auch als Absage an ein Kino verstehen, das sich von der Lebensrealität der Menschen entkoppelt zu haben scheint. »Das heutige Kino hat sich vom Leben entfernt. Ich habe einen 13jährigen Sohn und in den Superheldenfilmen, die wir gemeinsam schauen und natürlich auch gerne schauen, ist glasklar, dass Thor und die anderen Protagonisten niemals sterben werden«, sagt er. »Wenn man aber das Problem der Zeit, die Dauer und das Problem der Sterblichkeit, den Tod aus dem Kino verbannt, dann verabschiedet sich man von allem, worauf das Drama fußt. Darum geht es in all meinen Filmen um Zeit und Tod. Plötzlich merkst du, wie sich deine Lungen wieder mit Sauerstoff füllen, und plötzlich gilt es wieder, etwas zu gewinnen. Es geht wieder darum, wie wir leben, oder vielmehr, wie wir leben wollen.«

Die Eröffnungsszene seines neuen, sechsten Films »The Bikeriders« ist in diesem Sinne purer Nichols – auch wenn der Regisseur die Südstaaten gegen das nicht minder hartgesottene Chicago ausgetauscht hat. Da sitzt die Hauptfigur Benny, gespielt von Austin Butler, dem immer noch ein wenig der Nimbus seiner furiosen Darbietung als Elvis Presley im Film »Elvis« (2022) anhaftet, als Mitglied des berüchtigten Chicago Outlaw Motorcycle Club an einem Bartresen, auf dem Rücken das Emblem mit Totenschädel und gekreuzten Motorkolben. Zwei Hünen stehen auf einmal hinter ihm und verlangen, er solle seine Insignien ablegen. Butler verneint und plötzlich geht alles sehr schnell, hagelt es Schläge gegen Kopf und Torso, Butler lässt ein Klappmesser aufspringen und jemand streckt ihn hinterrücks nieder – Standbild.

Glücklicher Regisseur. Jeff Nichols (rechts) beim Außendreh

Glücklicher Regisseur. Jeff Nichols (rechts) beim Außendreh

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»The Bikeriders« basiert auf dem gleichnamigen Buch des Fotografen Danny Lyon aus dem Jahr 1968. Lyon, New Yorker Sohn europäisch-jüdischer Einwanderer, begleitete den Chicagoer Club von 1963 bis 1967, wurde irgendwann selbst Mitglied und porträtierte die anderen Mitglieder in Schwarzweiß-Fotografien und Interviews. Dem Ethos des New Journalism entsprechend, wollte Lyon ein verhältnismäßig ungeschöntes Bild der motorisierten Außenseiter liefern.

Den Film darf man durchaus als eine Reflexion darüber verstehen, wie sehr sich die Medien am Mythos und sex appeal der Biker gelabt haben. Klugerweise wird er aus der Sicht einer Frau erzählt, nämlich der auch schon für die Buchvorlage interviewten Kathy (Jodie Comer), der Freundin von Benny. Sie macht glaubhaft, wie sich trotz anfänglicher Furcht vor dem ölverschmierten Männerhaufen, zu dem neben Benny auch Johnny (Tom Hardy), Zipco (Michael Shannon) und Funny Sonny (Norman Reedus) gehören, die Anziehung zu Benny durchsetzte, sie selbst immer abgebrühter und 
tougher wurde, um schließlich eine Skepsis gegenüber dem wachsenden ­Gewaltpotential der Gang zu entwickeln.

Ein Dunst von Pheromonen, Alkohol und Zigaretten liegt über der Szenerie. Und ­irgendwann fließt eine Menge Blut. 

Nichols hat auf sinnlich anmutendem 35mm-Film gedreht und sich dabei über weite Strecken auf natürliches Licht verlassen. Und selbst­redend weiß er, dass das Kino nie so sehr in seinem Element ist, wie wenn es Bewegung zeigen kann – wofür sich ein Film über Motorradfahrer natürlich anbietet.

Dementsprechend ist »The Bikeriders« eine sensorische Angelegenheit – nicht nur in Hinblick auf die fahrbaren Untersätze, die durchs Bild schnellen, sondern auch hinsichtlich der Frisuren und Körper, die von Öl und Pomade schimmern; dazu liegt ein Dunst von Pheromonen, Alkohol und Zigaretten über der Szenerie. Und ­irgendwann fließt eine Menge Blut. Denn der Film erzählt auch vom Niedergang des Outlaw-Lebens, vom Ende der relativen Unschuld der Motorradclubs, davon, wie Kriegstraumata und Kriminalität diese Variante des Amerikanischen Traums korrumpierten.

Punkrock-Szene in Arkansas

Der Stoff habe Nichols gereizt wegen der Detailverliebtheit von Lyons Fotografien sowie den im Slang-­Originalton transkribierten Interviews, die mal selbstkritisch, mal grausam und dann wieder urkomisch daherkommen. »Wenn man sich Dannys Bilder anschaut, dann merkt man einerseits, in welchen prekären Verhältnissen diese Menschen mitunter gelebt haben«, sagt er. »Manche von ihnen wirken definitiv so, als seien sie obdachlos gewesen.

Andererseits kommt in ihren selbst­genähten, bestickten und genieteten Outfits, in ihren Frisuren, ob sie nun pomadig oder natürlich waren, ein starker ästhetischer Eigensinn zum Ausdruck. Das hat mich an die Punkrock-Szene in Arkansas erinnert, in der ich aufgewachsen bin und die aus ganz ähnlichen Kids mit ähnlichen Lebenswegen bestand. Und wenn man es schafft, die ganze Haptik und Sinnlichkeit dieser Kultur rüberzubringen, dann erteilt einem das Material gewissermaßen die Erlaubnis, zu den großen sozialen Themen des Ganzen vorzustoßen.«

The Bikeriders (USA 2023). Buch und ­Regie: Jeff Nichols. Darsteller: Jodie Comer, Austin Butler, Tom Hardy, Michael Shannon, Mike Faist, Norman Reedus