Eine Denkübung über ­diverses Addieren

Immer wieder bei null anfangen

Muss 1 + 1 immer 2 ergeben? Eine lehrreiche Mathematikstunde.

Den ehrenwerten Bemühungen, die Wissenschaft zu dekolonisieren, kann sich auf Dauer auch die sogenannte Königsdisziplin nicht entziehen. Nicht ganz grundlos wurden in der Mathematik eurozentrische, rassistische und suprematistische Züge entdeckt. Angelsächsische Bildungsinitiativen haben bereits Empfehlungen ausgearbeitet, die Lehrpläne zu reformieren, um ethnomathematische Aspekte stärker zu berücksichtigen.

Ein bisschen populistisch nehmen alle diese Kritiken zuvörderst Anstoß an der als rassistisch empfundenen Vorschrift, dass zwei plus zwei unbedingt vier sein müsse. Zwar wurde diese Regel zuerst im Nahen oder Fernen Osten aufgestellt. Schwer zu sagen, wer damals von wem abgeschrieben hat: die Ägypter von den Mesopotamiern oder die Perser von den Chinesen?

Europäer und andere gingen zu jener Zeit ihrer intrinsischen Leidenschaft nach, sich mit Keulen gegenseitig auf die Schädel zu schlagen. So kannten die alten Germanen den einfachen und den doppelten Kopfstoß. Spätestens nach dem dritten Schlag war es dann vorbei. Sie hatten kein Motiv, weiter zu zählen.

Eine Umbenennung der Ziffern ändert an der Mathematik nichts, sie würde allerdings eine riesige globale Anpassung erfordern. Die würde immerhin eine Menge Arbeitsplätze schaffen.

Trotz der nichteuropäischen Ursprünge nährt die scheinbar unerbittliche Strenge der Addition immer wieder den Vorwurf, mit diesem In­strument würden betagte weiße Lehrer, Professoren, Bankiers und Priester ihre Jahrhunderte alte Herrschaft zementieren. Folglich stellt sich die Frage, ob man die Sache nicht auch anders gestalten könnte. Die Antwort lautet: Warum denn nicht? Die Mathematik spricht keine Verbote aus, sie ist grundsätzlich ergebnisoffen. Wer ein viereckiges Zimmer nicht mag, baut sich eines mit drei Ecken. Kompliziert wird es dann nur bei der Suche nach einem Nachmieter.

Eine woke Forschung darf selbstredend jederzeit untersuchen, was passiert, wenn zwei plus zwei vorurteilsfrei berechnet wird. Spielen wir also 2+2 ≠ 4 durch. Da liegt es nahe, im ersten Entwurf einen einfachen Ansatz zu wagen. Setzen wir

These A. 2 +* 2 = 3

Wenn wir auf die Eins nicht verzichten wollen, bedeutet das, dass wir es mit einer Menge von mindestens drei Elementen zu tun haben, die wir mit 1, 2, 3 bezeichnen. In dieser Menge wäre eine Verknüpfung definiert, die allgemein sein soll, das heißt, sie soll es erlauben, jedes Element mit jedem anderen oder mit sich selbst zu kombinieren. Keine Kombination soll diskriminiert werden. Den neuen Zählmechanismus wollen wir Addition nennen und das + durch +* ersetzen, um den Unterschied zur herkömmlichen Addition zu markieren. Er besteht darin, dass das zweite Element, die 2, wenn es mit sich selbst addiert wird, nicht ein viertes, sondern das dritte Element, nämlich die 3, ergeben soll. Was passiert dann?

A.1. Es sei 1 +* 1 = 2

Wenn 1 +* 1 = 2 bleiben soll, dann bekommen wir wunschgemäß

(1 +* 1) +* (1 +* 1) = 2 +* 2 = 3.

Die spannende Frage wäre also, was in einem solchen Gebilde 1 +* 1 +* 1 oder 1 +* 2 sein soll?

1 +* 2 = 1 +* 1 +* 1 kann nicht ebenfalls 3 sein, sonst wäre 1 +* 1 +* 1 +* 1 = 1 +* 1 +* 1. Das führt zwangsläufig dazu, dass diese Eins die Eigenschaften einer Null hätte.

Die Eins wäre ein neutrales Element, die Zwei dann aber auch und somit auch die Drei. Am Ende hätten wir nicht drei, sondern nur noch ein Element, das wir unendlich oft mit sich selbst addieren könnten, ohne ein weiteres zu erzeugen. Darum können wir 1 +* 2 = 3 ausschließen.

Auch wenn 1 +* 2 = 2 wäre, würde sich die Eins in dieser Addition wie eine Null verhalten. Wie sollen wir aber dann durch mehrfaches Addieren 1 +* 1 = 2 oder 1 +* 1 +* 1 +* 1 = 3 erhalten? Ein innerer Widerspruch!

Die letzte verbleibende Möglichkeit bestünde darin, dass 1 +* 2 = 1 wäre. Dann wäre die 2 das neutrale Element. Diese Variante würde bedeuten, dass 2 +* 2 = 2 wäre, also auch 3 = 2. Immerhin hätten wir dann eine Menge aus zwei Elementen, von denen sich das zweite wie eine Null verhalten würde. Mit sich selbst verknüpft würden diese beiden Elemente null ergeben:

1 +* 1 = 2 und 2 +* 2 = 2.

Untereinander verknüpft addieren sie sich zu eins:

1 +* 2 = 1 und 2 +* 1 = 1.

So kommen wir aber in keinem Fall zu drei Elementen und schon gar nicht zu einem vierten, fünften oder sechsten Element, die wir unter Einhaltung dieser Vorschriften in unsere Menge einbauen könnten. Die Schlussfolgerung lautet: Wenn 2 +* 2 = 3 sein soll, dann kann 1 +* 1 nicht gleich 2 sein. Die Annahme A.1. kann demnach verworfen werden. Prüfen wir die nächste Option.

A.2. Es sei 1 +* 1 = 3

Dann wäre es der Drei egal, ob sie sich aus 1 +* 1 oder aus 2 +* 2 zusammensetzt. Folglich gälte:

1 +* 1 = 2 +* 2

Wenn im nächsten Schritt auch 

1 +* 2 = 3 wäre, dann wären die Zahlen 1 und 2 gleich:

1 +* 1 = 1 +* 2. Daraus folgt 1 = 2.

Schon wieder hätten wir die angenommene Struktur von mindestens drei Elementen auf zwei Elemente reduziert. Das war nicht die Absicht, so dass wir 1 +* 2 = 2 annehmen wollen. (Wir könnten auch 1 +* 2 = 1 setzen, aber das würde nur die Rolle der Elemente 1 und 2 vertauschen, eröffnet also keine zusätzliche Variante).

Damit ist die Eins wieder ein ­neutrales Element, sie spielt die Rolle einer Null. Weil dann 1 +* 1 = 1 sein müsste, bedeutet die Annahme A.2., dass die 3 gleich der 1 ist. Erneut ­reduziert sich die Zahlenmenge auf zwei Elemente.

Anscheinend endet es ständig damit, dass die These 2 +* 2 = 3 zu einer Zahlenmenge aus nur noch zwei Elementen führt. Deswegen sei immerhin angemerkt, dass dieses Zweiersystem nicht so sinnfrei ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Letztlich beruht ja die ganze Computertechnik auf einem Binärsystem. Und noch mehr kann man damit machen. Wenn wir eine andere Bezeichnung verwenden, wird es vielleicht einleuchtender. Unser System bestehe aus den zwei Elementen U und G. U stehe für eine ungerade Zahl, G für eine gerade. Dann hätten wir U +* U = G. Die Summe aus zwei ungeraden Zahlen ergibt eine gerade Zahl.

Ferner G +* G = G. Die Summe aus zwei geraden Zahlen ergibt eine ­gerade Zahl. Und schließlich G +* U = U +* G = U. Die Summe aus einer geraden und einer ungeraden Zahl ergibt eine ungerade Zahl. Dieses Duo hat zweifellos Inhalt und Bedeutung.

Das wär’s dann auch schon? Oh nein, jetzt können wir nämlich ein Quartett entwerfen. Bei den unge­raden Zahlen können wir solche unterscheiden, die Primzahlen sind – U1 – und solche, die keine Primzahlen sind – U2. Bei den geraden Zahlen können wir unterscheiden zwischen solchen, die die Summe zweier Primzahlen sind – G1 – und solchen, die keine Summe zweier Primzahlen sind – G2.

Dann erhalten wir:

U1 +* U1 = G1
U1 +* U2 = G2 ?

Hm, 19 ist zum Beispiel eine Primzahl (U1) und 15 ist eine ungerade Zahl, aber keine Primzahl (U2). Summiert ergibt das die gerade Zahl 34, aber 34 ist ja auch 17+17, also doch die Summe zweier Primzahlen (G1). Charming! Welche verflixte gerade Zahl ist eigentlich keine Summe zweier Primzahlen? Auf die Schnelle bietet sich keine an. Das ist auch kein Wunder, weil es sich dabei um ein berühmtes mathematisches Rätsel handelt, die Goldbachsche Vermutung – eines der bekanntesten ungelösten Probleme der Mathematik.

Nun werden sich die Ersten inzwischen sagen, dass 2+2 = 4 vergleichsweise angenehm ist. Jedoch, wir haben noch eine Möglichkeit.

A.3. Es sei 1 +* 1 = 1

Wir beugen uns also von vornherein dem Zwang, der sich aus den anderen Annahmen immer wieder ergab. 1 ist ein neutrales Element, folglich

1 +* 1 = 1
2 +* 1 = 2
3 +* 1 = 3

Nun kommen wir mit der Zwei zur Drei, wie beabsichtigt: 2 +* 2 = 3.

Eine weitere Addition mit der Zwei erschließt uns ein neues Element, das wir vier nennen:

2 + 3 = 2 + 2 + 2 = 4

Es funktioniert! Doch was haben wir hier gemacht? Leider nur eine Umbenennung: Die alte Null ist zur neuen Eins geworden, die alte Eins zur neuen Zwei, die alte Drei zur neuen Vier und so weiter, Warum nicht? Eine Umbenennung der Ziffern ändert an der Mathematik nichts, sie würde allerdings eine riesige globale Anpassung erfordern. Die würde immerhin eine Menge Arbeitsplätze schaffen.

Die Mathematik verbietet niemandem, die Summe aus zwei und zwei als drei zu definieren. Beim Tennis hat man sich ja auch an eine eigentümliche Zählweise gewöhnt. Im Fußball wäre sie allerdings ziemlich unzweckmäßig.

Im Kampf um mathematische Diversität, also um 2+2≠4, müssten wir nun die Möglichkeiten überprüfen, die uns die nächste These eröffnen würde.

These B. 2 +* 2 = 5

Wünscht das noch jemand? Dann versucht es halt selber – Hausaufgabe!

PS: Auch der Sänger Wolf Biermann hat einmal postuliert, dass zwei plus zwei »nicht immer vier« sein müsse. Mit diesem Vorgriff auf die woke Mathematik wollte er zum Ausdruck bringen, dass sogar eine Partei wie die CDU gelegentlich mal recht haben könne. Leider hat er es auf den Saiten seiner Gitarre nicht probiert. So ist uns ein völlig neuer Sound entgangen.