Das weltoffene Thüringen
Die Parallelen zum Beginn der neunziger Jahre sind unübersehbar: Die rechte Präsenz auf den Straßen nimmt zu, Menschen mit Migrationshintergrund haben Angst vor alltäglichem Rassismus und rechtsextreme Übergriffe häufen sich. Die thüringische Gewaltopferberatung Ezra hat jüngst ihre Jahresstatistik 2023 veröffentlicht. 147 rechtsextreme Angriffe wurden gemeldet, deutlich mehr als der jährliche Durchschnitt von 117 Angriffen seit der Gründung von Ezra 2011.
»Es sind nicht mehr die auf Anhieb als rechts erkennbaren Glatzen, von denen die Gewalt ausgeht. Das kommt mittlerweile auch aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.« Marcel Rocho, Sonneberger Kneipier
Neuer Hotspot für rechte Übergriffe ist der Landkreis Sonneberg, wo sich deren Zahl binnen eines Jahres verfünffacht hat. 20 Angriffe erfolgten im vergangenen Jahr. »Einiges erinnert vielleicht schon an die neunziger Jahre. Es gibt aber signifikante Unterschiede«, erzählt der 44jährige Marcel Rocho der Jungle World. Zunächst hat er als Informatiker gearbeitet, jetzt betreibt er die Kneipe »Gewölbe«. »Es sind nicht mehr die auf Anhieb als rechts erkennbaren Glatzen, von denen die Gewalt ausgeht. Das kommt mittlerweile auch aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.« In den Schrebergärten wehen schwarz-weiß-rote Fahnen, beim Supermarkt im Städtchen kauft man ungeniert mit dem T-Shirt-Aufdruck »Nazi – nicht an Zuwanderung interessiert« ein und in die Kneipe kommen Gäste mit »I like Htlr«-Shirts.
Rocho, selbst gebürtiger Sonneberger, erkennt seine Stadt manchmal nicht mehr wieder. Ein Gewöhnungseffekt habe eingesetzt. »Als ein AfD-Kreistagsmitglied sich mit einem Kumpel mit ›Sieg Heil‹ zuprostete, habe ich die beiden zwar hinausgebeten«, so Rocho. Angezeigt habe er die Sache aber nicht. »Es ist erschreckend ›normal‹ geworden«, sagt der Kneipenwirt.
Wahl von Sesselmann war ein Einschnitt
In der Stadt mit rund 23.000 Einwohnern kennt man sich – und seit den neunziger Jahren auch die tiefe politische Spaltung. Viele der jugendlichen Neonazis von damals leben inzwischen mit Familie nebenan, führen ein »bürgerliches« Leben. Marcel Rocho kann nicht alles ahnden, was im »Gewölbe« geschieht. Er hat klare Maximen aufgestellt: In seinem Lokal geht man respektvoll miteinander um, und Parolen zu rufen, ist nicht erwünscht. Das gilt auch für einschlägige Symbole auf T-Shirts oder Tattoos. »Da bitte ich schon mal einen Gast, sich eine Jacke über das Shirt zu ziehen«, so Rocho. Einige Merchandise-Shirts von Spirituosenmarken hat er immer griffbereit, um sie Kunden zu leihen.
Hier lassen sich Parallelen zur Wendezeit erkennen, als die »akzeptierende Jugendarbeit« versuchte, dem um sich greifenden Neonazismus entgegenzuwirken. Man redete mit politisierten Jugendlichen – mit den Kadern nicht. So ähnlich funktioniere der Alltag in Sonneberg heutzutage auch. Mit einem gravierenden Unterschied: Das rechte Milieu sehe sich in seinem Treiben parlamentarisch legitimiert durch die AfD – und in Sonneberg im Besonderen durch die Wahl des AfD-Landrats Robert Sesselmann. »Nach der Wahl von Sesselmann ist das Klima deutlich rauer geworden«, so Rocho.
Theresa Lauß von der Opferberatung Ezra kann dem nur beipflichten. Das Klima habe sich verändert. »Die Wahl von Sesselmann war ein Einschnitt. Es gibt seitdem eine noch stärkere Legitimationsgrundlage für rechte Aktivitäten«, erzählt die Beraterin der Jungle World. Zwar ging die Zahl der gemeldeten Fälle rechter Gewalt im Vergleich zu 2022 im vorigen Jahr zurück, sie liegt aber immer noch deutlich über dem Mittelwert seit Bestehen der Beratungsorganisation.
Rechtsextremer Anteil laut Befragung auf 19 Prozent erhöht
»Im Jahr 2022 hatten wir viele Fälle im Rahmen der Coronademonstrationen. Danach fielen diese Veranstaltungen weg und die Zahlen gingen zurück«, so Lauß. Es sei aber ein Trugschluss, daraus einen positiven Trend abzuleiten. Ganz im Gegenteil, denn die Zahl der rassistisch motivierten Übergriffe sei überhaupt nicht rückläufig. Die Opfer rechter Gewalt berichten Lauß zufolge immer häufiger, dass sie von ›ganz normal‹ aussehenden Menschen attackiert und beleidigt würden.
Der aktuelle Thüringen-Monitor unterstreicht das. Jährlich wird er von der Landesregierung in Auftrag gegeben, um ein Stimmungsbild der Bevölkerung zu erhalten. Festgestellt wurden in diesem Jahr fehlendes Vertrauen in die Politik, Angst vor »Überfremdung« und zunehmender Rechtsextremismus. Der Anteil der Befragten mit rechtsextremer Einstellung hat sich demnach seit dem Vorjahr von zwölf auf 19 Prozent erhöht. Weit mehr als die Hälfte (59 Prozent) sieht der Studie zufolge Deutschland durch »viele Ausländer« in einem gefährlichen Maß überfremdet.
Zwar sieht man die Demokratie noch immer als die beste Staatsform, mit ihrer Umsetzung in die Praxis ist allerdings nicht einmal mehr die Hälfte zufrieden. Zudem ist das Vertrauen in die Bundes- und Landesregierung gesunken. Nur noch 15 Prozent Vertrauen der Bundesregierung, 30 Prozent der rot-rot-grünen Landesregierung. Aktuellen Umfragen für die im September anstehenden Landtagswahlen zufolge liegt die AfD mit knapp 30 Prozent an erster Stelle.
Die Angst ist präsent
»Rassismus ist in Thüringen salonfähig geworden«, erzählt Natalia Beck von der Antidiskriminierungsberatung »Raus aufs Land« der Jungle World. Auch sie habe sich schon dabei ertappt, dass sie in ihrem Büro in der Innenstadt von Weimar abends das Licht ausgemacht habe, als sie allein in den Beratungsräumen gewesen sei. Ziehe wieder eine Montagsdemonstration am Büro vorbei, nehmen die Mitarbeiterinnen auch mal einen anderen Nachhauseweg.
»Raus aufs Land« arbeitet gerade an einem neuen Sicherheitskonzept. Die Angst ist präsent. Und das Vertrauen in die »wehrhafte Demokratie« schwindet. »Was fehlt, ist die konsequente Strafverfolgung. Es gibt kaum Verurteilungen rechter Gewalt. Oft ist dann von ›Kirmesschlägereien‹ die Rede«, moniert Theresa Lauß. Angriffe und Beleidigungen würden auf den Polizeiwachen oft bagatellisiert und nur halbherzig verfolgt. Strafrechtliche Verfolgung dauerte oft lange, wie zum Beispiel im Fall der rechtsextremen Gruppe Knockout 51 aus Eisenach. »In Eisenach prangte lange ein großes Graffiti ›Nazikiez‹ auf einer Wand – ohne dass es jemand entfernt hätte«, so Lauß. Die Gruppe habe zudem geschickt mit Gegenanzeigen reagiert, um an die Daten von Betroffenen zu gelangen.
»Es ist ein Klima der beinahe permanenten rassistischen Diskriminierung in Thüringen entstanden.« Natalia Beck, Antidiskriminierungsberatung »Raus aufs Land«
Abgesehen von den organisierten Neonazis sind es vermeintlich kleinere Vorfälle, die den Beraterinnen von »Raus aufs Land« Sorgen bereiten. »Es ist ein Klima der beinahe permanenten rassistischen Diskriminierung in Thüringen entstanden«, so Beck. »Die vielen vermeintlich kleinen Kommentare oder Diskriminierungen im Alltag sind schwer juristisch verfolgbar, machen aber etwas mit den Betroffenen.« Noch sieht sie kein neues Rostock-Lichtenhagen, aber wenn der Wahlkampf zum Landtag erst mal Fahrt aufnimmt, ist sie sich nicht sicher, wie weit die Bedrohung wirklich gehen wird.
Marcel Rocho will sein »Gewölbe« auf keinen Fall aufgeben. Zwar werde er in der Stadt deutlich weniger gegrüßt, seit er sich zivilgesellschaftlich engagiert. Angst habe er vor seinen Nachbarn aber nicht. Misstrauisch sei er eher bei zugereisten Fanatisierten, die endlich das in die Tat umsetzen, was sich ihrer Meinung nach alle »Deutschen« wünschen. Rocho, der seit 30 Jahren wieder im Landkreis Sonneberg lebt, gibt mitunter den demokratischen Parteien eine Mitschuld am Erstarken der Rechten. Sie hätten es in den zurückliegenden Jahren versäumt, ihre Politik den Menschen zu erklären.
Entschuldigen will er rechtes Gedankengut damit aber auf keinen Fall. Er hofft darauf, dass man irgendwann wieder miteinander ins Gespräch kommen kann. Immerhin – das stellt er fest – verlaufen über 90 Prozent der Abende in seiner Kneipe friedlich und harmonisch. Mitglieder der Jungen Alternative (JA) habe er neulich jedoch höflich nach draußen gebeten. Sorgen bereiten ihm die immer wieder geäußerten Drohungen wie »Dich kriegen wir auch« oder Boykottaufrufe gegen seinen Laden aber doch. Bleiben will er trotzdem.