Im mexikanischen Wahlkampf ist die Kandidatin der Regierungspartei klare Favoritin

Der Amlo-Bonus

In wenigen Wochen bestimmen die Wähler in Mexiko, wer dem beliebten Präsidenten López Obrador im Amt folgt. Klare Favoritin ist Claudia Sheinbaum von der Regierungspartei Morena. Mit einer ersten Fern­seh­debatte eröffneten die Kandidaten die heiße Phase des Wahlkampfs – der zum gewalttätigsten in der Geschichte des Landes zu werden droht.

Cuernavaca. Nicht nur über ihren nächsten Präsidenten können fast 100 Millionen Wahlberechtigte am 2. Juni in Mexiko abstimmen, sondern auch darüber, wer über 20.200 lokale und bundesstaatliche Ämter bekleiden wird. Auch beide Kongresskammern werden neu gewählt. Es sind die umfangreichsten Wahlen in der Geschichte des Landes und eines gilt bereits als so gut wie sicher: Das Amt des Staatsoberhaupts wird erstmals eine Frau übernehmen.
Da in Mexiko keine Wiederwahl gestattet ist, kann der amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, nicht wieder antreten. Seine sozialdemokratische Partei Movimiento Regeneración Nacional (Morena) schickt die Physikerin Claudia Sheinbaum Pardo ins Rennen, die Opposition die Ingenieurin Bertha Xóchitl Gálvez Ruiz.

Unter Präsident López Obrador erreichte die Zahl der Morde in Mexiko einen Rekordwert: In den vergangenen sechs Jahren waren es 82 pro Tag, darunter zehn Femi­zide – ein Mord alle 15 Minuten.

Wie schon bei vorigen Wahlen haben sich Regierungs- und Oppositionsparteien zu Zweckbündnissen zusammengeschlossen: Morena, die Arbeiterpartei (Partido del Trabajo, PT) und die Grünen vom Partido Verde Ecologista de México (PVEM) bilden die Koalition ­Sigamos Haciendo Historia (Lasst uns weiter Geschichte schreiben), die auch die jetzige Regierung trägt. Die einstige Staatspartei Partido Revolucionario ­Institucional (Partei der institutionellen Revolution, PRI), der christlich-konservative Partido Acción Nacional (PAN) und der linksliberale Partido de la Revolución Democrática (Partei der demokratischen Revolution, PRD) bilden die Koalition der Oppositionsparteien, Fuerza y Corazón por México (Stärke und Herz für Mexiko). Die Mitte-links-Partei Movimiento Ciudadano (Bürgerbewegung, MC) stellt den dritten Kandidaten, Jorge Álvarez Máynez, der aber als chancenlos gilt.

Der Wahlkampf hat am 1. März begonnen. Die Polarisierung zwischen Anhängern der Regierungs- und Oppositionskoalition könnte tiefer nicht sein – in einem von Drogenkrieg und Korruption zerrütteten Land. Wie die mexi­kanische Tageszeitung El Economista knapp zwei Monate vor der Wahl berichtete, wurden bereits rund 50 Politiker umgebracht, darunter 26, die für ein Mandat kandidiert hatten.

Seit Beginn des Drogenkriegs 2006 ist die Zahl der Gewaltverbrechen in Mexiko enorm hoch. Unter López Obrador erreichten die Morde einen neuen Rekordwert: Nach Angaben des mexikanischen Forschungsinstituts T-Research wurden in den vergangenen sechs Jahren über 180.000 Menschen getötet – das entspricht mindestens 82 Morden pro Tag, darunter zehn Femizide, ein Mord alle 15 Minuten. Erst in den vergangenen zwei Jahren waren die Tötungsdelikte leicht rückläufig. Rund 120.000 Menschen gelten im Land des Verschwindenlassens als vermisst, die Regierung hat die Ziffer kürzlich auf 99.729 herunterkorrigiert.

Obwohl es López Obrador nicht gelungen ist, die Gewalt im Land einzudämmen, halten sich seine Beliebtheitswerte auf hohem Niveau: Über 60 Prozent der Mexikaner stehen hinter ihrem linksorientierten Präsidenten. Nicht ohne Schadenfreude wendet er sich damit an die Opposition: »Was meine Gegner sehr ärgert, ist die hohe Akzeptanz, die ich bei den Bürgern noch immer habe.« Tatsächlich ist das »Phänomen Amlo« erstaunlich: In knapp zehn Jahren feierte seine 2011 gegründete Partei Morena einen Wahl­erfolg nach dem anderen, mittlerweile ist ein Großteil der Bundesstaaten fest in der Hand der Sozialdemo­kraten.

In der Unter- und Mittelschicht finden die unter López Obrador ausgeweiteten staatlichen Sozialprogramme viel Anklang. Der Mindestlohn hat sich verdoppelt, Menschen über 65 Jahre ­erhalten alle zwei Monate umgerechnet 250 Euro Rente, alleinerziehende Mütter rund 80 Euro. Die OECD lobt Mexiko für seine solide wirtschaftliche Entwicklung: Das Wirtschaftswachstum lag 2023 bei rund 3,2 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei rund 2,8 Prozent, die Landeswährung, der Peso, hat in den vergangenen Jahren stetig an Wert gewonnen.

Von diesem »Amlo-Bonus« scheint die Morena-Kandidatin Sheinbaum zu profitieren – einer Umfrage der mexi­kanischen Tageszeitung El Financiero zufolge liegt sie mit 51 Prozent weit vor Gálvez (34 Prozent) und Álvarez Máynez (sieben Prozent). Andere Umfragen sehen Sheinbaum sogar bei 62 Prozent.

Die Physikerin Sheinbaum war von 2018 bis 2023 Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und hat sich dabei als pragmatische Sachpolitikerin profiliert. Sie gilt als loyale Ziehtochter Obradors und von ihr wird erwartet, dass sie sein Projekt der sozialen und wirtschaft­lichen Transformation Mexikos konsequent fortführen wird. Obradors »vierte Transformation« hat historische Vorbilder: die Unabhängigkeit 1821, die modernisierenden Reformen unter Präsident Benito Juárez zwischen 1854 und 1876 sowie die Revolution zwischen 1910 und 1920. Zu Obradors Transformation gehören der Kampf ­gegen die Korruption, Sozialprogramme für ­Benachteiligte, Erhöhungen der Renten und des Mindestlohns und die wirtschaftliche Entwicklung unter staatlicher Kontrolle.

Im Unterschied zu ihm verspricht Sheinbaum, ihr Augenmerk auf eine moderne Klima- und Energiepolitik sowie Frauenbelange zu legen: Sie will Lohngleichheit für Frauen und Männer etablieren sowie spezialisierte Staats­an­wält­:innen, die Frauenmorde verfolgen. Ferner fordert sie, dass jeder Mord an einer Frau als Femizid untersucht wird. Sheinbaum gilt als we­niger volkstümlich als Obrador, eine Technokratin, die das Bad in der Menge eher scheut.

Der 38jährige Außenseiter Álvarez Máynez war Wahlkampfmanager für seine Partei MC und hatte ein Mandat im Abgeordnetenhaus, bevor er für die Präsidentschaft kandidierte.

Ihre Herausforderin Gálvez leitete drei Jahre das Nationale Institut für indigene Völker und saß als Senatorin im mexikanischen Parlament. Selbst Unternehmerin, vertritt sie eine unternehmerfreundliche Politik. Zugleich hat sie versprochen, Obradors populäre Sozialprogramme fortzuführen. Im Wahlkampf fällt sie durch unkonventionelle Aktionen auf, sie sieht sich aber Korruptions- und Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Ihre Schwerpunkt­themen sind Sicherheit, Korruptionsbekämpfung und Wirtschaft. Obwohl das in ihrer Parteienkoalition unüblich ist, bezeichnet sich die konservative Politikerin als Feministin. Mit Bildungs- und Präventionsarbeit will sie die geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen, eine nationale Datenbank über Gewalt gegen Frauen schaffen und ein Betreuungssystem einrichten, das Frauen bei häuslicher Arbeit entlasten soll.

Der 38jährige Außenseiter Álvarez Máynez war Wahlkampfmanager für seine Partei MC und hatte ein Mandat im Abgeordnetenhaus, bevor er für die Präsidentschaft kandidierte. Seine Schwerpunktthemen sind Sicherheit und die Legalisierung von Drogen. Der MC präsentiert sich als Alternative zur »alten Politik« von PRI, PAN und Morena und will vor allem junge Leute ansprechen. Nach Angaben der Wahl­behörde Instituto Nacional Electoral (INE) haben 26 Millionen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren die Möglichkeit, den Ausgang der diesjährigen Wahlen zu beeinflussen – bislang scheint Álvarez Máynez diese Wählergruppe nicht zu erreichen.

Am 7. April haben sich die drei Prä­si­dentschaftskandidat:innen in einer ersten Fernsehdebatte einen Schlagabtausch geliefert. Das INE rief Mexikaner ab 13 Jahren dazu auf, Fragen zu den Themen Bildung und Gesundheit, Transparenz und Korruptionsbekämpfung sowie Gewalt gegen Frauen zu stellen. Knapp zwölf Millionen Mexikaner verfolgten eine oberflächliche Debatte, die geprägt war von Polemik und gegenseitigen Korruptionsvorwürfen. Während Sheinbaum gewohnt sachlich die vermeintlichen Erfolge ihrer Partei betonte, zeigte sich Gálvez angriffslustig. Auch persönliche Attacken kamen nicht zu kurz: »Claudia, du bist eine kalte Frau ohne Herz.«

Gálvez’ Verbalattacken scheinen Sheinbaum allerdings nicht geschadet zu haben: Dem Umfrageinstitut Elec­toralia zufolge sehen 55 Prozent der Zuschauer Sheinbaum als Siegerin der Debatte, auf Gálvez entfallen nur 25 Prozent. Álvarez Máynez gelang es mit 20 Prozent immerhin, nicht abzufallen.

Während sich die Kandidaten bei Fernsehauftritten und Großveranstaltungen quer durchs Land beharken, mischt das organisierte Verbrechen im Wahlkampf mit: Kartelle versuchen, Stimmen und Kandidaten zu beeinflussen sowie Kampagnen zu finanzieren. Wer nicht spurt, muss mit allem rechnen, von Todesdrohungen über Entführung bis hin zur Ermordung. Die Politikberatungsfirma Integralia zählt 300 Übergriffe auf Politiker und deren Familienangehörige seit Beginn des Wahlkampfs – 1,8 Angriffe pro Tag.

Die Erschießung der Morena-Bürgermeisterkandidatin Bertha Gisela Gaytán Anfang April in Celaya auf offener Straße hat Mexiko tief erschüttert.

Wie diverse NGOs angeben, ist Morena die Partei mit den meisten ermordeten Kandidat:innen. Am gefährlichsten ist es für Lokalpolitiker. Die Erschießung der Morena-Bürgermeisterkandidatin Bertha Gisela Gaytán Anfang April in Celaya auf offener Straße hat Mexiko tief erschüttert – noch im März forderte Obrador das zuständige INE auf, Schutz für 40 Gemeinde­kan­didat:innen in Guanajuato zu organisieren, einem Bundesstaat, der seit über 30 Jahren vom PAN regiert wird.

Sheinbaum scheint den Sieg schon fest in der Tasche zu haben – der »Amlo-Bonus« wirkte bis in die Fernsehdebatte hinein. Die Regierungskoalition sieht sich knapp sechs Wochen vor den Wahlen auf einen Sieg zusteuern, mit dem sie die für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit im Kongress wiedererlangen könnte. Doch noch kämpfen die drei Konkurrent:innen um jede Stimme: Am 28. April soll eine zweite, am 19. Mai eine dritte Fernsehdebatte stattfinden.

Bei einem Ziel sind sich die Kan­di­dat:innen einig: Korruption und Gewalt zu beenden. Eine konkrete Strategie zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens haben sie freilich nicht präsentiert. Es bleibt zu befürchten, dass Mexikos Wahlen nicht nur als die umfangreichsten, sondern auch als die blutigsten in die moderne Geschichte des Landes eingehen werden.