John Niven hat ein Buch über seinen durch Suizid gestorbenen Bruder geschrieben

Auf Spurensuche

Der Schriftsteller John Niven hat eine Autobiographie geschrieben – über sich und seinen Bruder Gary, der sich 2010 das Leben nahm. Das Buch ist ein mit vielen Anekdoten gespicktes Porträt der Arbeiterklasse in Schottland, des Punk und der Rave-Zeiten der neunziger Jahre.

Der Schotte John Niven stand als Autor bisher eher im Ruf, ein literarischer Kraftmeier zu sein. Seine Figuren waren vorwiegend männlich und weiß, misogyn und rassistisch – Repräsentanten der zehner Jahre, die ihren sozialen Abstieg antizipierten und umso enthemmter nach unten traten. Beispielhaft dafür steht der Roman »Kill Your Friends«, der Niven 2008 den Durchbruch bescherte.

Die Hauptfigur Steven Stelfox ist PR-Manager einer Plattenfirma und ein geschmackloses Produkt des Neoliberalismus. Im Laufe des Romans beginnt er, Menschen zu ermorden, die seiner Karriere im Weg stehen. Damit erinnert es an andere Autoren wie Bret Easton Ellis oder Chuck Palahniuk, in deren Büchern sich ebenfalls gekränkte und toxische Männer tummeln, die getrieben sind von Drogen und Paranoia. Doch solche Erzählungen sind anachronistisch geworden.

Niven kostet die Süße der Nostalgie in vollen Zügen aus – und ist popkulturell bestens informiert. Zu jedem persönlichen Erlebnis hat er die passende Anekdote parat.

Trotzdem finden sich diese Themen auch in Nivens neuestem Buch wieder. »O Brother« ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit im schottischen Irvine und die Aufarbeitung der Lebensgeschichte seines jüngeren Bruders Gary. Niven nennt es »ein erzwungenes Geständnis«.

Doch es hat einige Jahre gedauert, bis er sein Buch schrieb, denn Garys Geschichte endete bereits im Jahr 2010. Da starb er im Alter von 42  Jahren an den Folgen eines Selbstmordversuchs im Ayrshire District General Hospital im Ort Crosshouse, nicht weit entfernt vom Elternhaus der Nivens. Gary hatte sich in eben­jenes Krankenhaus einliefern lassen, aus Angst, er könne sich etwas antun. Ein grausiger Cocktail aus Drogensucht, höllischen Kopfschmerzen und sozialer Deprivation hatte ihn in einen suizidalen Gedankenkreisel getrieben. Gary suchte Hilfe im Krankenhaus, aber er fand keine.

Eindrücke des Lebens der Arbeiterklasse im Süden Schottlands

Sein Bruder John hatte von Anfang an den Verdacht von Fahrlässigkeit. Und er ist niemand, der Dinge auf sich beruhen lässt. Also ging er auf Spurensuche, sammelte Hinweise, stellte Fragen: dem Krankenhaus­personal und der Polizei, vor allem aber sich selbst. Das Resultat sind eine gerichtliche Anklage gegen das Gesundheitsamt von Ayrshire – und das Buch »O Brother«. Es beginnt in Johns und Garys Kindheit, erst nach fast 100 Seiten kippen Nivens Beschreibungen ins Unangenehme und lassen erahnen, was noch alles kommen wird.

Niven erinnert sich gut. Es ist fast beängstigend, wie detailliert er Szenen aus der weit zurückliegenden Kindheit schildern und Eindrücke des Lebens der Arbeiterklasse im Süden Schottlands vermitteln kann. Niven ist gleichzeitig ein akribischer Protokollant und ein Geschichtenerzähler, unendlich traurig und wahnsinnig witzig.

»O Brother« ist aufgeteilt in sechs große Kapitel. Jedem Zeitabschnitt aus der Vergangenheit ist ein Prolog aus dem Jahr 2010 vorangestellt. Die spätere Entwicklung wird mit Puzzleteilen aus der Vergangenheit abgeglichen: das deviante Verhalten des Bruders in der Kindheit, die Schlägereien in der Jugend, die Stigmatisierung Garys und die klassische Rollenverteilung zwischen den Brüdern – der eine ein Tunichtgut, der andere ein guter Junge. Vor allem aber die körperlichen Züchtigungen durch Vater und Mutter ziehen sich durch das Buch.

Gewalt als Erziehungsmethode war bei den Nivens alltäglich – und zeit- und milieubedingt nicht unüblich. Allerdings erreichen die Übergriffe des Vaters mit der Zeit ein beängstigendes Ausmaß.

Gewalt als Erziehungsmethode war bei den Nivens alltäglich – und zeit- und milieubedingt nicht unüblich. Allerdings erreichen die Übergriffe des Vaters mit der Zeit ein beängstigendes Ausmaß. Ein harmloser Streit endet damit, dass sich Gary mit dem Brotmesser seine Hand anschneidet – und der Vater ihn dafür schlägt. Als Gary schließlich von der Polizei nach Hause gebracht wird, verliert der Vater vollends die Kontrolle. Die öffentliche Demütigung ist schlimm für ihn, aber noch schlimmer ist, dass Gary so renitent ist. Es ist ein Schlüsselwort dieses Buchs. Garys Renitenz passt gut zum Punk, der Ende der Siebziger auch das schottische Kleinstadtleben auf den Kopf stellte. John als guter Junge war dagegen nur »ein Plastikpunk«.

Niven kostet die Süße der Nostalgie in vollen Zügen aus – und ist popkulturell bestens informiert. Zu jedem persönlichen Erlebnis hat er die passende Anekdote parat: Am Abend des Tags, an dem sein Bruder Gary geboren wurde, zerstritten sich die Beatles während den Aufnahmen für »The White Album«. Niven war also schon zu Jugendzeiten vollgestopft mit unnützem Popwissen, aber auch bereits mit einem guten Riecher ausgestattet, wenn es darum ging, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, um etwas Grundfalsches zu sagen oder zu tun. Speziell The Clash werden Johns Leben begleiten und er wird vor allem deren Sänger Joe Strummer im Laufe seines Lebens mehrfach beleidigen.

Das lange Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs

Das Jahr 1990 markiert den Wendepunkt in »O Brother«: Vorher gab es The Clash und später The Smiths, eine Kindheit und Jugend in Irvine, die öde Schule und die Prügel zu Hause. Alles in allem war es nicht immer schön, aber meistens ungefährlich. Nach 1990 gibt es Ecstasy, den Rave, die Arbeitslosigkeit und den Krebstod des Vaters. Die Neunziger waren das lange Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als liberale Denker das Ende der Geschichte verlautbarten, die Zeit, als alles so schön bunt und nur die Vergangenheit dreckig und farblos war.

Allerdings waren die Neunziger auch die große Zeit der Nichtskönner und Blender. Irvine war dem adoleszenten Niven längst zu klein geworden. Er ging nach London und wurde PR-Manager bei einer Plattenfirma. Was man in diesem Beruf genau macht, weiß Niven nicht, aber eine ignorante Grundhaltung erweist sich als gute Voraussetzung. Er mutiert genau zu jenem Arschloch, das er später in »Kill Your Friends« por­trätieren wird.

Eine für Niven besonders harte Erkenntnis: Sein Bruder hatte Schulden »im niedrigen fünfstelligen Bereich«, ein Betrag, den er umstandslos für ihn hätte begleichen können.

Niven muss sich in der zweiten Hälfte des Buchs mit seiner Abwesenheit in dieser Zeit auseinandersetzen. Je älter er wird, desto weiter entfernt er sich von seinem Bruder. Garys Lebenslauf nachzuvollziehen, fällt ihm immer schwerer. Einige Lücken kann Schwester Linda füllen, die als junge Erwachsene ein paar Jahre länger im Elternhaus lebte. Dann ist da noch die Krankenakte von Garys Psychotherapeuten. Schlussendlich bleibt Niven seine Vorstellungskraft. Präzise arbeitet er sich durch Garys Lebensgeschichte, weil er um Verständnis ringt. Aber dafür ist die ­Distanz zwischen den beiden ungleichen Brüdern zu groß geworden.

Eine für Niven besonders harte Erkenntnis: Sein Bruder hatte Schulden »im niedrigen fünfstelligen Bereich«, ein Betrag, den er umstandslos für ihn hätte begleichen können. Garys Suizid nennt er das »Tschernobyl der Seele« – das für Niven typische Vokabular ist kernig, aber passend, weil »O Brother« eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit einem nicht immer angenehmen Zeitgenossen ist, der zufälligerweise sein Bruder war, der vieles falsch und ganz viel kaputt gemacht hat. Dahinter lauert eine weitere Erkenntnis, die so grausam wie logisch erscheint: »Ich bin froh, dass er tot ist.«

Manche Zeilen zu Beginn des Buchs wirken verkitscht: Da ist die Rede von »marmeladenfarbigen Sonnenuntergängen, deren Licht von den Baumkronen gefiltert wird«. Die Kindheit in den Siebzigern ist wie in einem Melodram die Zeit der Unschuld, bevor die Katastrophe die Idylle zerstört. Nur gibt es in dieser Geschichte weder eine Rückkehr zum glücklichen Urzustand noch die Zuweisung von Schuld und Unschuld. Das Wechselspiel zwischen Pathos und Handeln ist ausgebremst. Und es ist immer alles zu spät.


Buchcover

John Niven: O Brother. Aus dem schottischen Englisch von Stephan Glietsch. Btb-Verlag, München 2024, 400 Seiten, 24 Euro