»The Melancholia of Class« von Cynthia Cruz

Zurück zum Klassenbewusstsein

Die US-Amerikanerin Cynthia Cruz beschreibt in »The Melancholia of Class« sich und andere Trauerarbeiter aus der Arbeiterklasse von Amy Winehouse bis Clarice Lispector.

Melancholie und Arbeiterklasse – kann das zusammengehen? Leider ja, sagt die US-amerikanische Kulturkritikerin Cynthia Cruz. Wenn dabei Sigmund Freuds Definition von Melancholie als »Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts« der Maßstab ist – wobei das Objekt auch ein ideelles sein kann – und nicht einfach ein leichtes Seelenzwicken vor Abendstimmungen von Caspar David Friedrich.

Das geliebte Objekt, das, so dia­gnostiziert Cruz, beim Aufkommen des Neoliberalismus verschwunden sei, ist das Klassenbewusstsein. Sie sieht überall nur noch Bürger, die die Werte der Mittelschicht als universell ansehen und dann auch noch das Kunststück fertigbringen, das Pro­letariat zugleich zu ignorieren und zu denunzieren. Als Beispiel für diese Verachtung zitiert die Autorin die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die 2016 im Wahlkampf tönte: »Man könnte die Hälfte der Unterstützer Trumps in das hineinstecken, was ich einen Korb von Erbärmlichen (basket of deplorables) nenne.«

Cynthia Cruz beschreibt Amy Winehouse als »working-class anorexic«, als Person, die sich in einem ihr fremden, Assimilation verlangenden Show-Geschäft verloren habe: »Der Körper wurde mit der Zeit immer schmaler, so wie ihr Leben immer mehr schrumpfte.«

Nur noch als Geist geht die Arbeiterklasse in der Gegenwart der Vereinigten Staaten um, Phantomschmerzen als Spur hinterlassend. Cruz sieht in ihrer eigenen Anorexie ein Symptom der Melancholie. »Bis ins Erwachsenenalter hinein war mir mein Klassenhintergrund nicht ­bewusst«, hält die Tochter eines Automechanikers fest. Die Bewusstwerdung habe erst mit der unvermittelten Frage einer Freundin begonnen: »Schämst du dich nicht für den Beruf deines Vaters?« Die Autorin kon­statiert: »Ich schämte mich nicht, bis sie mich das fragte, aber von da an schämte ich mich.«

Cruz schreibt aber keine persönliche Leidensgeschichte. »The Melancholia of Class« ist mehr als ein US-amerikanisches Pendant zu Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« und dessen Vorläufern und Nachfolgern. Die Autorin wendet den Blick eher nach außen und sucht Leidensgenossen in Musik, Film und Literatur – und stößt auf eine ganze Menge. Von Joy Division, The Jam, Amy Wine­house, Cat Power, Sparklehorse und Songs: Ohia über Filme wie »Wanda« von Barbara Loden und »The Souvenir« von Joanna Hogg bis hin zu den Büchern der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector reichen die Fundstücke.

Anhand derer entwirft die Autorin unter der Hand fast so etwas wie ­einen neuen sozialistischen Realismus. Dabei dürfte wohl kaum jemandem bei genannten Künstlern zuerst das Signet »Arbeiterklasse« einfallen. Diedrich Diederichsen hatte vielleicht eine Ahnung davon, als er in dem 1989 erschienenen Buch »1 500 Schallplatten« seine frühere Wertung des »Düsterrocks« von Joy Division und anderen Bands dieser Art als konturlos und reaktionär zurücknahm und stattdessen von »proletarischem Impressionismus« sprach. Hinter dem »Depro-Sound« von Joy Division standen denn auch ganz konkrete Erfahrungen, wie Cynthia Cruz mit einem Zitat des ­Gitarristen Bernard Sumner illus­triert. »Wenn die Leute also von der Dunkelheit in der Musik von Joy Division sprechen, so hatte ich mit 22 Jahren schon eine Menge Verluste in meinem Leben erlitten. Der Ort, in dem ich gelebt hatte, wo ich meine glücklichsten Erinnerungen hatte, all das war weg. Alles, was übrig war, war eine Chemiefabrik«, sagte Sumner. »Da ist also diese Leere.«

Besonders die Bühnenpräsenz des Sängers Ian Curtis hatte es Cruz ­angetan, gerade weil seine abgehackten, unrunden spastischen Bewegungen – meilenweit entfernt von den üblichen sexuell aufgeladenen Rockstarposen – nur beharrlich sein Inneres nach Außen kehrten. »Der Körper wurde das einzige Vehikel, um das Unsagbare auszudrücken«, resümiert sie. Das wurde er auch für viele andere Künstler in dem Buch, die die Welt ebenso wenig auf den Begriff bringen konnten, wie etwa Paul Weller von The Jam mit seinem gepressten, von aufgestauten Spannungen zeugenden Gesangsstil. Und auch der Schriftsteller, der sich in Clarice ­Lispectors Roman »Der große Augenblick« (1977) von ganz weit her einer in Rio de Janeiro angelandeten Sekretärin aus dem Nordosten des Landes nähert, sagt von sich: »Ich bin kein Intellektueller. Ich schreibe mit dem Körper.«

Die Anorexie ist Cruz zufolge ebenfalls ein körperliches Ausdrucks­mittel für seelische Zustände und – frei nach Mark Fishers Definition der Depression als »Theorie über die Welt« – eine Art, nein zu sagen. Die Autorin betrachtet die Krankheit, die für sie nach eigener Aussage eine Welt schuf, in der sie leben konnte, sogar als eine subversive Praxis. Ähnlich wie der Mod oder der Dandy den bürgerlichen Habitus durch Übererfüllung karikiert, tut es die Essgestörte nach Ansicht der Autorin mit dem Schlankheitsideal. Selbst Lust liege auf eine verdrehte Weise darin, konstatiert Cruz. Sie beschreibt Amy Winehouse als working-class anorexic, als Person, die sich in einem ihr fremden, Assimilation verlangenden Show-Geschäft verloren habe: »Der Körper wurde mit der Zeit immer schmaler, so wie ihr Leben immer mehr schrumpfte.« Einen Freund der 2011 verstorbenen Sängerin zitiert sie mit den Worten: »Das ist jemand, der verschwinden will.«

Gesten der Distanz kennt diese Körpersprache nicht. Das Leben von Amy Winehouse, ihre Texte, ihre Musik und ihre Auftritte – das ist alles eins. Dementsprechend bezeichnet Cruz die Konzerte von Joy Division nicht als Live-Auftritte, sondern als »Destillationen«. In dem Film »Wanda« von 1970, in dem Barbara Loden als Regisseurin und Hauptdarstellerin eine Seelenverwandte von Clarice ­Lispectors kleiner Sekretärin porträtiert, passt ebenfalls kein Blatt zwischen Loden und ihre Protagonistin. »Ich denke, es gibt ein Wunder in ›Wanda‹«, zitiert Cruz die Schriftstellerin und Regisseurin Marguerite Duras.

»Normalerweise ist da eine Distanz zwischen der visuellen Repräsentation und dem Text, dem Subjekt und der Aktion. Hier ist die ­Distanz total aufgehoben. Barbara Loden verschmilzt mit Wanda.«

»Wanda« ist auf grobkörnigem 16mm-Material gedreht und mit ­einer Handkamera gefilmt. Zu einer vergleichbar armen Ästhetik bekennt sich auch Lispectors Schriftsteller. Um nichts in der Welt würde er »ein Leben mit glänzenden und ­falschen Worten beflecken, das so karg ist wie das unserer Schreibkraft«. Ähnlich gehen die anderen Trauerarbeiter vor. Der Musiker Jason Molina von Songs: Ohia bewegte sich nach Cruz Ansicht immer weiter auf das Schweigen und die Einfachheit zu. Den Stil der ersten Cat-Power-Alben beschreibt sie als stripped down. Als dirtying bezeichnet sie das, was Mark Linkous von Sparklehorse seinem Ausgangsmaterial angedeihen ließ. Als »Widerstand gegen die Glätte der Musikwelt« fasst die Autorin diese Haltung.

Linkous schaute wie die meisten seiner in dem Buch auftauchenden Kollegen beim Komponieren zurück. Bei Blues, Country oder Soul bedienten sich Sparklehorse. Zukunftsmusik konnte die Band nicht produzieren, weil sie nicht an ein besseres Morgen glaubte. »Von Grund auf Anti-Arbeiterklasse« nennt die Kulturtheoretikerin die Idee des Fortschritts und hält es da lieber mit Walter Benjamin und seinem Tigersprung in die Vergangenheit. Auch persönlich sehnen sich Cruz und viele ihrer Protagonisten zurück, selbst wenn sie ein zwiespältiges Verhältnis zu den Orten ihrer Kindheit und Jugend haben. Erst außerhalb ihres Herkunftsmilieus, in der Welt der Mittelschicht, machten sie erste Erfahrungen der Fremdheit – und wurden auch sich selbst fremd. »Auf dem Weg weg von unseren Wurzeln, hin zu dem, was wir zu werden hofften, verschwanden wir, betraten ein Reich zwischen zwei Toden«, schreibt Cruz. Und so einige überlebten die Gratwanderung nicht: Ian Curtis, Amy Winehouse, Mark Linkous und Jason Molina.

Die Mutter der Autorin kommt ursprünglich aus Deutschland, aus der Stadt Völklingen im Saarland, die einst für ihre Stahlindustrie bekannt war. Auf ihrer Spurensuche bekam Cruz noch einmal einen Schimmer von Klassenbewusstsein, als sie in der Wohnung eines ehemaligen Stahlarbeiters ein großes Eisenkunstwerk mit dem Emblem der Eisenhütte sah. An dieses Bewusstsein will sie wieder anknüpfen. Ihr Buch schließt mit den Zeilen: »Wir sind so viele, und alle von uns warten. Wer weiß, was wir alles tun könnten, wenn wir ­zusammenkämen.«

Cynthia Cruz: The Melancholia of Class: A Manifesto for the Working Class, Repeater Books, London 2021, 196 Seiten