Anja Huwe, ehemalige Sängerin von Xmal-Deutschland, im Gespräch über ihr Soloalbum, die Singles ihrer Band sowie ihr Verhältnis zu Punk und Techno

»Für uns war es einfach Zufall, dass wir alle Mädchen waren«

Nach über 30 Jahren macht Anja Huwe wieder Musik. Die Sängerin der Post-Punk-Band Xmal Deutschland, die in den vergangenen Jahrzehnten als Malerin arbeitete, hat ein Soloalbum veröffentlicht, gleichzeitig werden frühe Singles ihrer Band neu aufgelegt. Im Interview mit der »Jungle World« erzählt Huwe darüber, wie sie wieder zur Musik kam und wie der Punk Ende der Siebziger und später auch der Techno sie prägten.
Interview Von

Anja, du hast seit mehr als drei Jahrzehnte keine neue Musik veröffentlicht, nun erscheint dein erstes Soloalbum »Codes«. Wie kam es dazu?
Anfragen an mich gab es immer mal wieder: Meine frühere Band Xmal Deutschland hat bis heute Fans in vielen Ländern, da kamen immer mal wieder Leute auf mich zu und fragten, ob ich nicht wieder Musik machen wolle. Ich bin mit der Berliner Musikerin Mona Mur befreundet, auch die hat häufiger zu mir gesagt: Gib der Musik doch eine zweite Chance! Entscheidend war dann die Anfrage des israelischen Metal-Musikers Yishai Sweartz im Jahr 2020. Er ist auch Fan von Xmal Deutschland, er hat mir einfach so einen Song geschickt und gefragt, ob ich mir das mal anhören kann. Ich habe das Stück Mona vorgespielt. Die hat mich dann ermutigt, den Gesang dazu beizusteuern.

Und aus einem Song wurde dann ein ganzes Album?
Ja. Wir sind mit Yishai Sweartz ins Gespräch gekommen, so kam es zum Thema des Albums: Er hat uns seine bewegende Familiengeschichte erzählt. Sein jüdischer Großvater Mo­she Shnitzki lebte während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet des heutigen Belarus. Er schloss sich während der Nazi-Okkupation als 17jähriger den Partisanen an und lebte drei oder vier Jahre in belarussischen Wäldern. Nach dem Krieg ist er dann nach Israel gegangen. Erst kurz vor seinem Tod hat ihn seine Familie dazu gebracht, diese Erlebnisse aufzuschreiben. Yishai hat die Tagebucheinträge übersetzt, ins Telefon gesprochen und uns geschickt. Wir fanden sie faszinierend.

Sind aus den Tagebucheinträgen am Ende Texte für das Album geworden?
Nicht direkt. Sie haben mich stark inspiriert, ich habe aber meine eigene Poesie daraus gemacht. Ich habe mich ganz konkret gefragt: Was passiert mit einem, wenn er in einem Wald lebt? Gibt es da Hoffnung, gibt es da Liebe? Wie geht man mit Angst und Verzweiflung um? Der Wald wurde zum großen Thema der Songs. Auch der Albumtitel »Codes« bezieht sich auf den Wald. Der Gedanke dahinter ist: Der Wald gibt einem den Code vor, und wenn man dem Code nicht folgt, ist man verloren. Also muss man sich anpassen. Die Musik habe ich gemeinsam mit Mona ­eingespielt, in ihrem Studio in Berlin.

Xmal Deutschland in den Achtzigern

War schnell keine nur mit Frauen besetzte Band mehr. Xmal Deutschland in den Achtzigern (in der Mitte Anja Huwe)

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Bist du mit Mona Mur schon lange befreundet?
Ja. Wir haben in den Achtzigern auf St. Pauli zusammengewohnt, in einer WG mit Alexander Hacke, Christiane F., Klaus Maeck, Frank Ziegert und Jochen Hildisch alias Jäki Eldorado. Die Wohnung war in den alten Redaktionsräumen der St. Pauli-Nachrichten in der Hein-Hoyer-Straße. Das war sehr lustig! Mona und ich haben auch im »Rip Off« gearbeitet, dem Plattenladen von Klaus Maeck. Irgendwann kamen Mona und ich vor ­einigen Jahren mal wieder zusammen, und schon da wollte sie mich überreden, wieder Musik zu machen.

Ist das Album wegen des Themas so düster geworden?
Nicht unbedingt. Das Düstere ist ein Teil von mir, auch wenn ich kein düsterer, depressiver Mensch bin. Vielleicht lagere ich eher die dunklen Seiten des Lebens in die Musik aus. Ich arbeite ja seit vielen Jahren auch als Bildende Künstlerin. Meine Bilder sind gar nicht düster, sie sind sehr farbig und bunt.

»Die Techno-Kultur in Detroit und Chicago hat mich interessiert, aber die Rave-Nummer wurde mir dann auch zu kommerziell. Die Underground-Geschichte fand ich immer super. ›Independence‹ ist sowieso mein Wort.«

Gleichzeitig mit deinem Soloalbum erscheinen auch die frühen Singles deiner ehemaligen Band Xmal Deutschland in einer Neuauflage. Wie kam es dazu?
Das ist eine längere Geschichte. Eigentlich wollte das Label 4AD eine Vinyl-Box veröffentlichen. Das zog sich aber alles wahnsinnig lange hin. Als ich ihnen sagte, ich hätte auch ein Soloalbum fast fertig, waren sie daran nicht interessiert. Währenddessen bin ich mit Sacred Bones Records in Kontakt gekommen. Ich war bei denen in New York, wir hatten gleich eine gute Ebene. Die hatten diesen spirit, den ich von früher kannte: ein junges Label, tolle Künstler, enthusiastische Leute. In den Büros traf ich auf junge Leute, die totale Xmal-Deutschland-Fans waren. Sacred Bones war auch an meinen Solo-Sachen interessiert. Am Ende entschieden wir, dass beide Platten dort erscheinen sollen.

Es gab ja in vielen Ländern in jüngerer Zeit eine Tendenz, dass die junge Generation Post-Punk für sich entdeckt. War das auch ein Beweggrund, die Musik wiederzuveröffentlichen?
Das war nicht entscheidend. Bei Xmal Deutschland war es einfach so, dass wir plötzlich weg vom Fenster waren. Aber es gab nach wie vor ein riesiges Interesse an unserer Musik. Das war auch ein Grund, die Musik wieder zugänglich zu machen.

Nach der Auflösung von Xmal Deutschland Anfang der Neunziger hast du in London gelebt. Warst du dort auch in der Post-Punk-Szene unterwegs?
Nein, da war ich eher in der Acid-House- und Techno-Szene. So kam es dann auch dazu, dass ich gemeinsam mit Andrea Junker Ende der Neunziger für Viva die Sendung »Housefrau« produziert habe.

Später bist du dann nach New York gegangen.
Ja. In New York habe ich meine Kunst gemacht und Ausstellungen gehabt, Musik war da nicht mehr ganz so wichtig für mich. Die Techno-Kultur in Detroit und Chicago hat mich interessiert, aber die Rave-Nummer wurde mir dann auch zu kommerziell. Die Underground-Geschichte fand ich immer super. »Independence« ist sowieso mein Wort. Mit Xmal Deutschland mussten wir ja auch irgendwann entscheiden, ob wir zu einem großen Label gehen oder nicht – an dem Punkt wird es immer schwierig.

Eure letzten Veröffentlichungen erschienen bei Metronome/Warner – war das die falsche Entscheidung?
Die Band hatte sich eigentlich vorher schon aufgelöst, die Gründungsmitglieder Manuela Rickers und ­Fiona Sangster waren zu der Zeit schon nicht mehr dabei. Aber es war damals nicht einfach, bei einem Major-Label zu sein. Ich habe auf Deutsch gesungen, das wollte das Label nicht. Sie wollten, dass ich eine Solokarriere starte, aber das konnte ich nicht zu der Zeit, weil ich so sehr eingebunden war in die Band.

Xmal Deutschland - Incubus Succubus Live 1983

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Xmal Deutschland war prägend für den Goth. Wart ihr damals Teil dieser Szene?
Ich komme eher aus dem Punk, ich war nie Teil dieser Szene. Aber viele Fans von Xmal Deutschland kommen aus der Goth-Szene. Der Begriff Goth kam eigentlich erst auf, als wir fast schon nicht mehr da waren. Wir wurden zu Ikonen dieser Szene. Warum, habe ich bis heute nicht ganz verstanden. Vielleicht lag es an der Single »Incubus Succubus«. Der Song war düster, das Cover war schwarz und hatte diese Frakturschrift.

Xmal Deutschland waren im Ausland bekannter als in Deutschland, oder?
Wir waren im Ausland auf jeden Fall mehr auf Tour als hier. Zunächst in England, den USA und Japan. Südamerika kam dann später, dort haben wir auch viele Fans, und ebenso in Spanien. In Madrid haben wir zum Beispiel vor 2.000 Fans gespielt.

Ihr wart eine Band, die zu Beginn nur aus Frauen bestand. Gab es zu anderen deutschen Bands wie Malaria! oder Östro430 Kontakt?
Wir kamen alle aus unterschiedlichen Städten und hatten unterschiedliche Ansätze. Östro430 kamen aus Düsseldorf, Malaria! aus Berlin, die hatten auch einen ganz anderen style. Ich würde nicht sagen, dass es eine Konkurrenz war, man beobachtete einander einfach. Direkte Kontakte gab es kaum. Für uns war es ja auch einfach Zufall, dass wir alle Mädchen waren.

»Und dann standen da The Clash und The Slits auf der Bühne. Da dachte ich: Das will ich auch machen.«

Gab es einen Initialmoment für dich im Punk?
Das war mein erstes Konzert in London. Silvester 1979 oder 1980, ich weiß nicht mehr genau. Ich kam zu einem riesigen Laden, wo ein Punk-Konzert stattfand. Ich wusste gar nicht, wer da spielt. Es war ausverkauft, aber ich und mein Freund haben uns noch reingemogelt. Und dann standen da The Clash und The Slits auf der Bühne. Da dachte ich: Das will ich auch machen.

Schon irre, was diese einzelnen Konzerte in England alles ausgelöst haben.
Ja. Ich fand das alles geil, auch die Mode und so. Und dass man alles selber machen konnte. In Hamburg wurde es dann schwierig: Ich wohnte noch zu Hause in Rahlstedt, bin aber schnell nach St. Pauli gezogen. Da war ich natürlich verloren für meine ­Eltern.

Kommst du aus einer eher bürgerlichen Familie?
Gar nicht unbedingt bürgerlich. Mein Vater war Journalist, hat Frauenzeitschriften veröffentlicht. Meine Großmutter war auch Sängerin, hat Lyrik geschrieben. Aber die hatten für mich einen anderen Weg gesehen.

Gab es neben den Post-Punk-Bands prägende Einflüsse auf Xmal Deutschland, die man so nicht vermuten würde?
Ästhetisch auf jeden Fall: Die Maler der Neuen Wilden waren wichtig. Ich hatte irgendwann angefangen, Illustration zu studieren, meine ganzen Freunde waren an der HfBK (Hochschule für bildende Künste Hamburg; Anm. d. Red.), da ging es richtig ab. Man Ray zum Beispiel war auch sehr bedeutend für mich.

Zurück zur Musik. Anja Huwe

Zurück zur Musik. Anja Huwe

Bild:
Katja Ruge

Viele Frauen-Punkbands von damals machen derzeit neue Platten. Hast du dafür eine Erklärung?
Nein, das kann ich nur für mich beantworten. Ich war immer kreativ, habe nie aufgehört, Kunst zu machen. Ich habe neulich in Newcastle Miki Berenyi von Lush getroffen. Die sagte zu mir: »Zu singen ist irgendwie geil, oder?« Das war witzig, weil ich einfach nur genau das Gleiche dachte. Es ist eine tolle Ausdrucksform, körperlich unheimlich anstrengend zum Teil, aber es macht natürlich auch wahnsinnig Spaß. Ob ich aber auch wieder auf Tour gehen werde, weiß ich noch nicht.

Du bist Synästhetikerin. Wie darf man sich diese besondere Form der Wahrnehmung vorstellen?
Mehrere Sinne werden verknüpft und als zusammengehörig wahrgenommen. Ich habe damals bei den Bandproben schon gefragt: »Können wir mal diesen roten Song spielen?« Keine meiner Mitmusikerinnen konnte etwas damit anfangen. Irgendwann habe ich von Charlie Burchill von den Simple Minds erfahren, dass er ­Synästhetiker ist. In dem, was da beschrieben wurde, habe ich mich komplett wiedergefunden. Ich habe aber eine milde Form der Synästhesie.

Arbeitest du als bildende Künstlerin anders als als Musikerin?
Bildende Kunst bedeutet für mich Entspannung. Ich bin schon zum Teil sehr reizüberflutet, beim Malen und Designen ziehe ich mich komplett zurück, dann beschäftige ich mich tagelang mit bunten Punkten. Das beruhigt mich total. In der Musik kann ich eher andere Seiten von mir ausleben.

Xmal Deutschland: Early Singles (1981–1982) / Anja Huwe: Codes (Sacred Bones)