Argentiniens neuer Präsident Javier Milei gibt sich plötzlich sehr staatsmännisch

Das Rumpelstilzchen und der Staatsmann

Javier Milei ist Argentiniens neuer Präsident und hat seinen Wähler:innen versprochen, mit den etablierten Parteien und ihrer Politik zu brechen. Nun hat er aber einige altbekannte Politiker auf wichtige Posten in seiner Regierung berufen.

Javier Milei hat es geschafft: Seit Sonntag ist der rechtslibertäre Politiker vom Parteienbündnis La Libertad Avanza Präsident Argentiniens. Getreu seiner populistischen Rhetorik hielt er seine erste Rede als Staatsoberhaupt nicht vor den Mitgliedern des Nationalkongresses, sondern auf dem Platz vor dem Gebäude, seinen Anhängern zugewandt. Dabei gab er sich, anders als im Wahlkampf, staatsmännisch. Schon in den Wochen zwischen dem ersten Wahlgang und der Stichwahl am 19. November hatte er seinen Ton geändert. Aus dem wütenden, geifernden Mann, der mit der Kettensäge herumfuchtelt, um sein Programm der Staatsverkleinerung zu demonstrieren, wurde der staatstragende Politiker, der seine Reden vom Blatt abliest, seinen konservativen Rivalen die Hand reicht und sogar den linken Präsidenten des Nachbarlandes Brasi­lien, Luiz Inácio »Lula« da Silva, zu seiner Amtseinführung am 10. Dezember einlud.

Nun fragt sich ganz Argentinien: Welcher Milei wird das Land künftig regieren? Hatte er bei der ersten Wahlrunde im Oktober noch hinter dem Kandidaten der regierenden Peronisten (Unión por la Patria), Wirtschaftsminister Sergio Massa, gelegen, gewann er die zweite Runde so deutlich wie noch niemand vor ihm seit 1983, dem Jahr der Rückkehr zur Demokratie nach der Militärdiktatur. 56 Prozent der Wähle­r:innen entschieden sich für Milei, der sich als Anarchokapitalist bezeichnet.

Seinen Sieg verdankt Milei seiner Tabula-rasa-Rhetorik. Nach Jahren der Krise verfing seine Behauptung, mit Inflation und Korruption aufzuräumen und auch die »Kaste«, wie er die Vertreter der etablierten Parteien nennt, zu entmachten. Im September hatte die Inflationsrate mit 124 Prozent den höchsten Stand seit 1991 erreicht, die Armutsquote liegt bei 40 Prozent, die Wirtschaft steckt in einer Rezession und eine drei Jahre andauernde Dürre hat einen Rückgang des Sojaanbaus um zwei Drittel gegenüber 2018 bewirkt. Sojabohnen sind eines der wichtigsten Exportgüter des Landes.

Milei ist zwar Präsident, sein Wahlbündnis La Libertad Avanza hat jedoch nur 40 von 257 Sitzen im Abgeordnetenhaus und stellt lediglich sieben von 72 Senatoren.

Die Tatsache, dass Massa als Wirtschaftsminister das Gesicht der gescheiterten Politik der peronistischen Regierung ist – obwohl er dieses Amt erst seit 2022 innehatte –, spielte Milei in die Hände. Dass ein Großteil jener Wähle­r:innen, die im ersten Wahlgang für Patricia Bullrich von der konservativen Partei Propuesta Republicana (Pro) ­gestimmt hatten, bei der Stichwahl für Milei votierte, hat allerdings damit zu tun, dass Milei und Bullrich zwischen den Wahlgängen ein informelles Bündnis eingingen.

Milei stellte seine verbalen Angriffe auf die traditionelle Rechte ein und zog Bullrich und Mauricio Macri, in dessen Kabinett sie von 2015 bis 2019 Sicherheitsministerin war, auf seine Seite; beide haben Milei bei der Stichwahl uneingeschränkt unterstützt. Nun bekommt Bullrich von Milei ihren alten Posten als Sicherheitsministerin wieder und mit Luis Caputo ernennt er einen Vertrauten Macris zum Wirtschaftsminister. Caputo war zunächst Staatssekretär, dann Minister für Finanzen, außerdem kurze Zeit Direktor der Zen­tralbank unter Macri. Er begleitete Macri, als der 2018 nach Washington reiste, um mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über Hilfskredite für das Land zu verhandeln. Die über 57 Milliarden US-Dollar, die der IWF Argentinien gewährte und von denen 44 Milliarden in Anspruch genommen wurden, brachten nicht den erhofften Aufschwung und belasten die Staatskasse bis heute.

Dass Milei sich mit Macri einließ, stieß in den sozialen Medien auf Spott. Er solle seinen Slogan La casta tiene miedo (Die Kaste hat Angst) ändern zu La casta tiene empleo (Die Kaste hat einen Job), hieß es. Politisch war das dennoch geschickt. Denn Milei ist zwar Präsident, sein Wahlbündnis La Libertad Avanza hat jedoch nur 40 von 257 Sitzen im Abgeordnetenhaus (nur 130 Mandate waren bei der zurückliegenden Wahl neu vergeben worden) und stellt lediglich sieben von 72 Senatoren – von den politisch einflussreichen Gouverneuren gehört ihm kein einziger an. Die 40 Abgeordneten und sechs Senatoren von Pro gehören nun zum Regierungslager. Die vormaligen Mitglieder anderer Parteien im Bündnis JxC, wie die der traditionellen Unión Cívica Radical (UCR), wollen sich weder dem Regierungslager noch der peronistischen Opposition anschließen.

Aufgrund der Kräfteverhältnisse ist unklar, welche Teile seines Programms Milei überhaupt umsetzen kann. Insbesondere die Realisierung seiner größeren Projekte wie die Einführung des US-Dollar als Landeswährung und die Schließung der Zentralbank scheinen zunächst nicht anzustehen. Milei hat mit Santiago Bausili einen alten Funktionär der Regierung Macri zum Direktor der Zentralbank ernannt, der außerdem ein Vertrauter von Luis Caputo ist. Die Zusammenlegung der Ministerien für Bildung, Soziales, Arbeit und Gesundheit zu einem einzigen Ministerium für Humankapital war ein Wahlversprechen, doch letzten Endes blieb das Gesundheitsministerium eigenständig, womit es nun nach Schließungen und Zusammenlegungen neun Ministerien gibt – statt der ehemals 19.

Milei schwört die Bevölkerung auf eine harte Zeit ein. Denn keine Regierung habe je ein »schlimmeres Vermächtnis erhalten« als seine.

Milei schwört die Bevölkerung auf eine harte Zeit ein. Denn keine Regierung habe je ein »schlimmeres Vermächtnis erhalten« als seine. »Es ist kein Geld da«, so Milei, deswegen sollen 20 Milliarden Dollar im Staatshaushalt eingespart werden, was fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Dafür sollen zum Beispiel die Subven­tionen für Gas, Strom und den öffentlichen Nahverkehr gestrichen werden. Außerdem werde privatisiert, insbesondere der Erdölkonzern YPF und die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas sollen abgestoßen werden. Milei warnt außerdem, es werde eine Stagflation geben, denn die Neuordnung der Staatsfinanzen werde einen negativen Einfluss auf die »wirtschaftliche Aktivität« haben. Um die Inflation zu senken, brauche er »zwischen 18 und 24 Monaten«.

Veränderungen zeigen sich schon jetzt in der Außenpolitik. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Milei seine Ankündigung wahr macht und die Be­ziehungen zur Volksrepublik China abbricht, da es sich um einen der wichtigsten Handelspartner Argentiniens handelt. Doch der vom bisherigen Prä­sidenten Alberto Fernández gewünschte Beitritt in die Gruppe der Brics-Staaten, die Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika umfasst und ab dem 1. Januar 2024 erweitert werden soll, wird wohl nicht stattfinden. Auch der Abschluss des Freihandelsabkommen zwischen der EU und der lateinamerikanischen Wirtschaftsunion Mercosur ist nun fraglich. Milei hatte das Abkommen scharf kritisiert und gedroht, Argentinien werde aus dem Mercosur austreten, wovon ihn Berater nun allerdings warnen.

Klar ist: Milei will Argentinien eng an die Seite der USA führen. Noch vor seinem Amtsantritt reiste er mit einem kleinen Team nach Washington, um für sein Programm der Restrukturierung der argentinischen Wirtschaft zu werben. Auch zu Israel sucht Milei den Kontakt. Argentinien könnte damit das einzige große Land in Lateinamerika werden, das eine dezidiert israelfreundliche Politik vertritt.

Abgesehen von schwierigen Verhandlungen im Kongress muss Milei sich wohl auf Widerstand von der Straße einstellen. Argentinien hat große, einflussreiche Gewerkschaften, die eng mit dem Partido Justicialista, im Alltag schlicht peronistische Partei genannt, verbunden sind. Auch die sozialen Bewegungen aus den Bereichen Menschenrechte, Feminismus und Umwelt dürfte Milei gegen sich aufbringen. Seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel ist die Tochter eines ehemaligen Offiziers, der die Militärdiktatur mit ganzem Herzen unterstützte, und Mitglied der Gemeinde der ultrakatholischen Piusbruderschaft. Sie leugnet die Verbrechen der Militärdiktatur, lehnt die Ehe für alle, das Abtreibungsrecht und einfache Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags ab, wie sie in Argentinien bestehen. Sie unterhält zudem gute Beziehungen zur spanischen rechtsextremen Partei Vox. Milei selbst leugnet den menschengemachten Klimawandel und will, um die Wirtschaft anzukurbeln, mehr Öl und Gas im argentinischen Süden fördern.

Seit dem Tod Néstor Kirchners 2010 und der Verurteilung von Cristina Fernández de Kirchner im vergangenen Jahr ist es den linken Peronisten nicht gelungen, neues Führungspersonal hervorzubringen.

Für das peronistische Lager wiederum beginnt ein langer Prozess der politischen Neuaufstellung. Den heterogenen Strömungen war es 2019 gelungen, alte Streitigkeiten beizulegen und geeint zur Wahl anzutreten. Insbesondere der Beitritt Massas und seiner Partei Frente Renovador in das von Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner (Präsidentin von 2007 bis 2015) geschmiedete und von der großen peronistischen Partei Partido Justicialista (PJ) dominierte Bündnis Frente de Todos (Wahl 2019) beziehungsweise Unión por la Patria (Wahl 2023) schien den Peronismus wieder attraktiv zu machen. Dass Massa, der eigentlich für den rechten Flügel der Peronisten steht, von Kirchner, der Anführerin des dominanten linken Flügels, zum Kandidaten auserkoren wurde, war jedoch vor allem dem Mangel an einem geeigneten Vertreter aus den Reihen des Kirchnerismus geschuldet. Der prägt die argentinische Politik seit 20 Jahren. Doch seit dem Tod Néstor Kirchners 2010 und der (noch nicht rechtskräftigen) Verurteilung wegen Korruption von Cristina Fernández de Kirchner im vergangenen Jahr ist es den linken Peronisten nicht gelungen, neues Führungspersonal hervorzubringen.

Kirchner ist zwar im PJ sehr einflussreich, hat sich im Wahlkampf jedoch zurückgehalten. Nach der Niederlage hat sich das peronistische Bündnis die Einheit im Kongress vorerst bewahren können. Doch die Kämpfe um den Führungsanspruch stehen noch aus. Kirchner werden durchaus weiterhin Ambi­tionen auf eine neue Amtszeit nachgesagt, womöglich soll auch ihr Sohn Máximo darauf vorbereitet werden. Doch auch Massa hat einen ebenso unbedingten Willen zur Macht und lässt sich womöglich nicht einfach beiseiteschieben. Das könnte das Zweckbündnis auch wieder zerstören. Der glücklos aus dem Amt geschiedene Alberto Fernández hat angekündigt, sich zurückzuziehen.

Die internationalen Finanzmärkte nahmen Mileis Wahlsieg erleichtert auf. Offenbar setzen viele Investoren ihre Hoffnungen auf dessen geplante Schocktherapie. Als Argentinien zuletzt ein Jahrzehnt lang dem Neoliberalismus frönte, konnte die obere Mittelschicht zwar dank der Eins-zu-eins-Bindung des Peso an den US-Dollar Urlaub in Miami machen – doch 2001 folgte der große Kollaps der Wirtschaft und das Land musste den Staatsbankrott erklären.