Die Graphic Novel »Die Farbe der Erinnerung« von Barbara Yelin über die Shoah-Überlebende Emmie Arbel

Der Sprache Platz machen

Die Shoah-Überlebende Emmie Arbel spricht seit Jahren in Gedenkstätten und Schulen als Zeitzeugin über den Nationalsozialismus. Die Zeichnerin Barbara Yelin hat Arbels Lebensgeschichte nun eine Graphic Novel gewidmet.

»Am Anfang sagte ich, ich erinnere mich an nichts. Aber es kam zurück.« Zwei Sätze ziehen sich über immer mehr ins Dunkle verschwimmende Panels und fassen gleich zu Beginn zusammen, worum es in Barbara Yelins neuer Graphic Novel immer ­wieder gehen wird: erinnern und vergessen, vergessen wollen, erinnern müssen. Das für Erinnerungsliteratur charakteristische schmerzhafte ­Ringen mit widerstreitenden Empfindungen zieht sich als roter Faden auch durch die Lebensgeschichte der Shoah-Überlebenden Emmie Arbel.

Für ihren biographischen Comic »Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung« hat sich die Münchner Zeichnerin Yelin fast vier Jahre lang immer wieder mit Arbel getroffen. Das sie sich Zeit genommen hat für Begegnungen und Gespräche in Israel, den Niederlanden, Deutschland und über das Telefon, ist dem nun beim Berliner Comicverlag Reprodukt erschienenen Band auf jeder Seite anzumerken.

Arbels Erinnerungen werden weitestgehend chronologisch erzählt, aber, so kündigt es die Autorin selbst an, »Zeiten, Orte und Sprachen springen in diesem Buch oft durcheinander – genauso wie in der Wirklichkeit«. Verloren geht man beim Lesen dennoch nicht, denn die verschiedenen Zeiten sind durch Farben oder Orts- und Datumsangaben markiert. Zusätzlich bieten ein angefügtes Personenregister und eine Zeittafel Orientierung.

Im Mittelpunkt steht bei aller Lückenhaftigkeit und künstlerischen Gestaltung immer Arbels Lebensgeschichte. Über das Erzählen sagt sie selbst einmal im Zusammenhang mit ihren Vorträgen als Zeitzeugin, dass »es ein wichtiges Thema ist. So lange noch welche von uns leben – jedes Jahr ein bisschen weniger – müssen wir das tun. Denn es wird Geschichte sein in einigen Jahren. Es ist schwer. Aber ich tu’s.«

Die verschwommenen Konturen ermöglichen eine sensible Darstellung von Opfern des Nazi-Terrors und repräsentieren zugleich Arbels subjektiven, von Trauma und Vergessen geprägten Blick.

Emmie Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren. 1942 deportieren die Nazis ihre Familie ins KZ-Sammel­lager Westerbork, 1944 kommt sie mit ihrer Mutter und ihren Brüdern Rudi und Menachem in das Konzentrationslager Ravensbrück. Nur wenige Tage nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee stirbt Arbels Mutter und die verwaisten Geschwister kommen zu einer Pflegefamilie in den Niederlanden. Es folgen die Emigration nach Israel, Jahre im Kibbuz und in der Armee, Hochzeit, Familiengründung, Scheidung, Reisen nach Europa und 1989 auch erstmals wieder nach Deutschland. Seit 2008 spricht Emmie Arbel regelmäßig als Zeitzeugin in der Gedenkstätte Ravensbrück und in Schulen im Saarland. Sie lebt heute in Kiryat Tiv’on in der Nähe von Haifa.

Lässt sich ein solches Leben in einer Graphic Novel erzählen? »To be honest, I’m not sure«, antwortet Arbel im Comic auf die Frage Yelins, als beide noch am Anfang ihrer Arbeitsbeziehung stehen. Aber weil es erzählt werden muss, füllen sich in zahlreichen Begegnungen die unzureichenden, nüchternen biographischen Stichpunkte allmählich mit Leben – und unerwartete, bisher un­erzählte Abgründe tun sich auf. Im vergangenen Jahr erschien ein Teil von Arbels Erinnerungen in der Comic-Anthologie »Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust«. Diese 40 Seiten sind Teil von »Die Farbe der Erinnerung«, erfahren hier aber die notwendige Erweiterung.

In den mehr als 35 Jahren seit der Veröffentlichung von Art Spiegelmans »Maus« sind so viele Comics über die Zeit des Nationalsozialismus erschienen, dass sie ohne Pro­bleme ein großes Regal füllen könnten. Die Frage nach der Vereinbarkeit des Mediums mit dem Thema stellt sich gleichwohl – wie bei jeder anderen künstlerischen Auseinandersetzung damit – immer wieder neu. Der britische Zeichner Neil Gaiman hat in diesem Zusammenhang die dem Comic eigene Möglichkeit hervor­gehoben, beim Lesen abzusetzen, an einem Panel hängenzubleiben, zurück- oder weiterzublättern, Pausen einzulegen. Gerade bei Arbeiten, die sich mit der Shoah auseinandersetzen, sei dies ein Vorteil gegenüber dem linearen Erzählen im Film. Für das Grauen angemessene Bilder zu finden, bleibt dennoch eine schwierige Aufgabe.

Zur Narration gehören auch Beschreibungen von Entfremdungsgefühlen im Kibbuz, die Scham, selbst mit engsten Angehörigen über die Zeit im Konzentrationslager zu sprechen, und nicht zuletzt das Ringen mit dem öffentlichen Sprechen im Land der Täter.

Barbara Yelin setzt für die Szenen in Ravensbrück eine dunkle Farbpalette aus schwarz, blau und grau ein und lässt mit Ausnahme der Protagonistin keine Gesichter erkennen. Die verschwommenen Konturen ermöglichen eine sensible Darstellung von Opfern des Nazi-Terrors und repräsentieren zugleich Arbels subjektiven, von Trauma und Vergessen geprägten Blick. »Emmie, welche Farbe hat die Erinnerung?« fragt Yelin irgendwann. »Welche Farbe? Schwarz«, antwortet diese, während sich ein schwarzes Tintenmeer ausbreitet und alle Details der Gesichter vollends verschluckt.

Den Gegenpol dazu stellen die häuslichen Szenen in Arbels jetzigem Haus und Garten dar. Tagsüber ­dominieren hier Grün- und Gelbtöne, und Yelin räumt der Darstellung von lichtdurchfluteten Zimmern voller Pflanzen viel Raum ein, etwa wenn in einem doppelseitigen Aquarell Arbels Enkel Neriya wie aus einem Urwald auftauchend in ein Gespräch zwischen den beiden platzt.

Mit ihren flächigen Farbschichten, in denen die Charaktere und Ereignisse mal deutlich hervortreten, mal ins Vage versinken, mit wässrig auslaufenden Panel-Rändern und groben Pinselstrichen spiegelt Yelins Mischtechnik auch stilistisch den Ansatz wider, die persönliche Perspektive anstelle etwa einer historisch akkuraten Dokumentation wiederzugeben. Für Letztere sind im Band ein Nachwort der Autorin, ein Essay des His­torikers Alexander Korb, Kartenmaterial und ausführliche Reflexionen der Herausgeberinnen angefügt.

Diese eindeutige Trennung ermöglicht der biographischen Arbeit ihren respektvollen Rhythmus und ihre Eindringlichkeit. Arbel kann ungestört und assoziativ erzählen und auslassen, sie ist niemandem Rechenschaft oder eine wissenschaftliche Einordnung schuldig, sondern behält die Kontrolle über ihre eigene Geschichte und ihren persönlichen Umgang damit.

Zu ihrer Narration gehören auch Beschreibungen von Entfremdungsgefühlen im Kibbuz, die Scham, selbst mit engsten Angehörigen über die Zeit im Konzentrationslager zu sprechen, und nicht zuletzt das Ringen mit dem öffentlichen Sprechen im Land der Täter. Yelin findet bei aller Komplexität immer die passende Bildsprache. Sie bleibt, wenn nötig, auf Abstand, indem sie die Blickrichtung ins Weite verlagert, so als wollte sie Arbels Sprache Platz machen.

Im vom jüdischen Ehepaar Levin betriebenen Heim für Pflegekinder, in dem Arbel unterkam, wurde sie vom Pflegevater jahrelang ­sexuell missbraucht.

Dass Barbara Yelin eine technisch versierte und gewissenhafte Biographin ist, hat sie bereits mit früheren Veröffentlichungen wie der NS-­Mitläuferinnengeschichte »Irmina« oder ihrem Porträt der Schauspie­lerin Channa Maron bewiesen. »Die Farbe der Erinnerung« geht in der Thematisierung des erinnernden Erzählens noch weiter, indem Yelin selbst als Figur auftaucht und sowohl ihren Arbeitsprozess als auch ihre Rolle als Besucherin aus Deutschland reflektiert, die sich in ein Privatleben vortasten muss, wenn daraus ein Buch entstehen soll. Arbels Zustimmung einzuholen, war besonders für jenen Teil der Geschichte notwendig, der von den Nachkriegsjahren im niederländischen Bilthoven handelt.

Im vom jüdischen Ehepaar Levin betriebenen Heim für Pflegekinder, in dem Arbel unterkam, wurde sie vom Pflegevater jahrelang ­sexuell missbraucht. Über diese weitere Traumatisierung, die damit einhergehende Scham und das beschädigte Verhältnis zu einem ihrer Brüder, der die Täterschaft des Pflegevaters nicht wahrhaben wollte, spricht Arbel hier zum ersten Mal öffentlich. »Möchtest du, dass das ins Buch kommt?« fragt Yelin nach. Die Antwort lautet ja, nur soll es nicht zu viel Raum einnehmen. Auch hier drückt das gezeichnete Nachfragen das freie Erzählenlassen aus. Eine übergeordnete Thematisierung des editorischen Haderns mit der Passage übernimmt wiederum Herausgeber Alexander Korb da, wo sie hingehört – im Anhang.

Arbel berichtet, so viel sie mag oder kann, und nicht selten endet ein Erzählstrang mit bewusstem Abbrechen und dem Wunsch nach Ruhe oder ­einer Pause. Dabei entstehen gezeichnete Porträts, die innerhalb der großangelegten Narration der Graphic Novel eine tiefe Ruhe ausstrahlen. Yelin zeigt Emmie Arbel in ihrem Garten, im Fernsehsessel oder am Küchentisch sitzend, meistens rauchend, mal nachdenklich, mal verschmitzt die Zeichnerin ignorierend. Dem stehen soziale und lebendige Szenen in höherem Erzähltempo gegenüber, vor allem wenn Familienmitglieder auftauchen und ihrerseits Fragen stellen, Ergänzungen machen oder schlicht ihren Alltag leben.


Buchcover

Barbara Yelin, Emmie Arbel: Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung. Reprodukt, ­Berlin 2023, 192 Seiten, 29 Euro