Die anhaltenden Kontroversen um Art Spiegelmans Comic »Maus«

Die Aufregung der Ignoranten

Die Entscheidung eines Bildungsausschusses im US-Bundesstaat Tennessee, die Graphic Novel »Maus« aus dem Lehrplan zu streichen, hat international für Schlagzeilen gesorgt. Es ist nicht das erste Mal, dass Art Spiegelmans künstlerische Auseinandersetzung mit der Shoah und seiner Familiengeschichte für Kontroversen sorgt.

»Ich habe alles durchgelesen, und die Teile, in denen es um seinen Vater geht – der Vater ist der Typ, der den Holocaust durchgemacht hat –, haben mir wirklich gefallen, ich mochte sie«, sagte Mike Cochran am 10. Januar auf der Sitzung des McMinn County Board of Education. Auf der Veranstaltung wurde über den Verbleib von Art Spiegelmans Graphic Novel »Maus« auf dem Lehrplan des Landkreises im US-Bundesstaat Tennessee verhandelt. »Es gab andere Teile, die völlig unnötig waren«, fuhr Cochran, ein Mitglied des Bildungsausschusses, fort. »Ich fand das Ende blöd, um ehrlich zu sein. Ein großer Teil der Beschimpfungen hatte damit zu tun, dass der Sohn den Vater beschimpft hat. Ich weiß nicht, wie unsere Kinder dadurch irgendetwas über ethische Fragen lernen sollen.«

Das Ergebnis der Debatte des McMinn County Board of Education ist bekannt und sorgte für Schlagzeilen: Der Comic »Maus«, in dem Art Spiegelman vom Leben seines Vaters im Polen der dreißiger Jahre, von der immer schärferen antisemitischen Ausgrenzung und dessen Zeit in Auschwitz erzählt, wurde einstimmig aus dem Lehrplan für den Geschichtsunterricht der achten Klassen gestrichen. Neben dem fehlenden Respekt vor dem Vater beanstandeten Mitglieder des Bildungsausschusses die Verwendung vulgärer Sprache in acht Fällen, die Andeutung von vorehelichem Sex und die Darstellung von Gewalt. »Es zeigt, wie Menschen gehängt werden, es zeigt, wie sie Kinder töten. Warum fördert das Bildungssystem so etwas? Es ist weder klug noch gesund«, sagte etwa Tony Allen, ein Mitglied des Gremiums, in der Diskussion, dem auch die Biographie des Künstlers nicht gefiel: »Vielleicht täusche ich mich, aber der Kerl hat früher für den Playboy ge­arbeitet. Sie können sich seine Geschichte ansehen. Und wir lassen ihn Bilder in Büchern für Grundschüler anfertigen.«

»Maus« steht in Tennessee – bis auf die Ausnahme von McMinn County – und auch in vielen anderen US-Bundesstaaten auf dem Lehrplan für den Geschichtsunterricht. In Deutschland ist dies nicht der Fall.

Die Darstellung des Selbstmords von Art Spiegelmans Mutter Anja, den der Zeichner bereits 1972 im Comic »Gefangener auf dem Höllenplaneten« verarbeitet hatte, spielte in der Diskussion eine besonders große Rolle, da in ihr viele der genannten Vorwürfe auf nur einer Seite zusammentreffen: Man sieht die nackte Mutter tot in der Badewanne liegen, das Panel zeigt dazu ein Close-up der Rasierklinge, mit der sie sich die Pulsadern aufschneidet, während der verzweifelte Sohn sie in seiner Trauer als »bitch« beschimpft, da sie ihn, gefangen in der Familiengeschichte, allein zurückgelassen habe.

Erst mit einigen Wochen Verzögerung wurde die Entscheidung des Bildungsausschusses des McMinn County publik. Zahlreiche Medien reagierten mit kritischen Beiträgen, jüdische Verbände in den USA rügten die Entscheidung angesichts des mangelnden Wissens vieler Schüler über die Shoah, und auch Spiegelman selbst schaltete sich ein. Er merkte in einem Interview an: »Hier geht es um Kontrolle, (…) um die Vorstellung, besser zu wissen, wie man unterrichtet, als jemand mit mehreren Master-Abschlüssen, der sich genau überlegt hat, was er unterrichtet und wie er es unterrichtet. Und es ist eine Arroganz, die damit einhergeht, dass man sagt: ›Ich will hier Autorität haben.‹«

Spiegelman bezog sich dabei darauf, wie die Mitglieder des Board of Education die Wortbeiträge von Steven Brady und Melasawn Knight beiseite gewischt hatten. Die beiden hatten begründet, warum die Graphic Novel im Lehrplan von Tennessee steht. In diesem gehört sie zu einem Modul, in dem die Achtklässler sich neben Auszügen aus anderen Büchern zur Shoah auch mit Interviews mit Überlebenden befassen sollen, um sich dann in die Rolle Art Spiegelmans zu versetzen und Fragen an einen Holocaust-Überlebenden zu formulieren. Dieser Dialog wiederum solle in Comic-Panels festgehalten und mit dem Rest der Klasse besprochen werden, sagte Brady über das Konzept des Lehrplans.

Die Ignoranz, mit der das Board den Argumenten begegnete, die Brady und Knight dafür vorbrachten, den Lehrplan und die Beschäftigung mit »Maus« beizubehalten, ist erstaunlich. Dennoch bleibt hervorzuheben, dass »Maus« in Tennessee – bis auf die Ausnahme von McMinn County – und auch in vielen anderen US-Bundesstaaten auf dem Lehrplan für den Geschichtsunterricht steht. In Deutschland ist dies nicht der Fall. Comics, die keine eindeutige pädagogische Botschaft haben, sind im deutschen Bildungssystem nach wie vor suspekt.

»Maus« war nicht zum ersten Mal Gegenstand einer Kontroverse. Nachdem 1986, nach einer langen Suche nach einem Verleger, der erste Teil des Comics in den USA endlich erschienen war, musste Spiegelman immer wieder zu seinem Werk Stellung nehmen, und zwar stets zu den selben Punkten, die auch in ­Tennessee offen oder zwischen den Zeilen angesprochen wurden. So war Spiegelman 1988 als Redner zu einer Konferenz in Los Angeles ­geladen, um »Maus« vorzustellen; im Publikum saßen damals vor ­allem Überlebende der Shoah. »Hättest du nicht warten können, bis wir tot sind, bevor du so was machst?« fragte ein Zuhörer nach Spiegelmans Vortrag.

»So was« bezog sich, anders als bei der Kritik des Boards of Education, weniger auf den Inhalt als auf die Form: Die Protagonisten im Comic sind als Tiere dargestellt, die Juden als Mäuse, nichtjüdische Deutsche als Katzen, nichtjüdische Polen als Schweine, Amerikaner als Hun­de. Aus der Perspektive eines Überlebenden ist eine solche Frage durchaus nachvollziehbar. Sie wird Spiegelman allerdings weiterhin von verschie­denen Seiten immer wieder gestellt. Der Holocaust-Überlebende zielte damals mit seiner ­Frage auch auf das Problem, wie und ob man sich künstlerisch mit der Shoah auseinandersetzen kann.

Spiegelman selbst denkt in seinem Comic über die Grenzen der Kunst nach, wenn er dort sein alter ego sagen lässt: »Es gibt so viel, was ich nie verstehen oder bebildern kann. Die Wirklichkeit ist zu komplex für Comics.« »Maus« zeigt jedoch, dass Comics durchaus einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an die Shoah leisten können, indem sie eine Form entwickeln, die es erlaubt, diese Problematik zu reflektieren.

Das Potential von Spiegelmans Comic wurde in Deutschland lange Zeit nicht erkannt. »Maus« wurde trotz seiner selbstreflexiven Anlage bei seinem Erscheinen 1989 zunächst eher negativ rezipiert. Der Spiegel schrieb von einem »Holocaust-Cartoon«, auch andere Medien fragten nach der Angemessenheit der Form für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. 1995 wurde ein Poster beschlagnahmt, das für den Comic-Salon in Erlangen hergestellt worden war und das Cover des ersten Bandes von »Maus« zeigte. Dies wurde mit dem Hakenkreuz begründet, das auf dem Bild bedrohlich im Hintergrund zweier Mäuse zu sehen ist. Wie 27 Jahre später bei der Debatte des Board of Education über »Nacktheit« und Flüche, die völlig losgelöst von ihrem Kontext diskutiert wurden, wurde bei der Beschlagnahmung das Hakenkreuz nicht inhaltlich eingeordnet. Hakenkreuze, Nacktheit, Flüche und Gewalt sind bei Spiegelman kein Mittel, um Skandale zu provozieren, oder Selbstzweck, sondern dienen der Darstellung histo­rischer Tatsachen und als Ausdruck der Gefühle der Figuren.

Während sich die Mitglieder des Board of Education im McMinn County vorgeblich um die Entwicklung der Schulkinder sorgten, war für die Proteste anlässlich der Erstveröffentlichung von »Maus« in ­Polen 2001 verletzter Nationalstolz ausschlaggebend. Polen sind in »Maus« als Schweine dargestellt – Tiere, die in der Welt der Fabel allerdings durchaus positiv konnotiert sind. Auch bei diesen Protesten wurde der historische Kontext außer Acht gelassen.

Mit der von Tieren bevölkerten Welt des Comics entwickelte Spiegelman eine Form, um die Shoah zu verarbeiten und auf Mechanismen hinzuweisen, die der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden zugrunde lagen. Bei den Tierdarstellungen handelt es sich nicht um Metaphern. Die Figuren in »Maus« sind Menschen, die Tiermasken ­tragen, die sie jedoch nicht selbständig an- und ablegen können. Spiegelman verwies in einem Interview in diesem Zusammenhang auf Jean-Paul Sartres Satz, wonach ein Jude jemand sei, den andere als Juden ­definierten; dem die Souveränität, die eigene Identität zu bestimmen, entzogen sei. Nichts anderes zeigt Spiegelman mit der Gestaltung seiner ­Figuren als Tiere: Sie werden durch ihr Gegenüber zugerichtet, sind identitären Zuschreibungen ausgesetzt, denen sie nicht entkommen können und die in der Realität, in der sie leben, über Leben und Tod entscheiden.

Władek und Anja Spiegelman überlebten Auschwitz durch Zufall. Ihr Sohn Art, 1948 geboren, musste ebenso wie sie einen Umgang mit diesem Überleben finden. Entstanden ist daraus ein Comic, der auch zeigt, wie Erinnerung funktioniert: Als Art Spiegelman zum ersten Mal seinen Vater nach der Vergangenheit fragt, sitzt dieser auf einem Trimm-dich-Rad und beginnt, in die Pedale zu treten. Das Rad der Erinnerung wird in Gang gesetzt, mit all den Lücken, dem Unsagbaren und dem Verdrängten, das Stück für Stück wieder zum Vorschein kommt.

Franz Kafkas Erzählung »Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse« habe ihn ebenfalls in seiner Entscheidung beeinflusst, Juden als Mäuse abzubilden, sagte Spiegelman einmal. »Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen«, heißt dort. Dieses Bild überträgt Spiegelman auf sich und seine eigene Kunst: Comics können sein Unglück nicht vertreiben, machen es aber erträglicher. Sie bieten eine Möglichkeit, sich mit der Geschichte der eigenen Familie auseinander­zusetzen.

»Ich liebe den Holocaust. Ich habe den Holocaust fast jedes Jahr im Unterricht behandelt, aber dies ist kein Buch, das ich meinen Schülern unterrichten würde«, fasste ein Lehrer der McMinn High School, der im Januar der Sitzung des McMinn County Board of Education beiwohnte, in ­einem Wortbeitrag seine Ablehnung von »Maus« zusammen. Vielleicht zeichnet Art Spiegelman ja noch einen Comic über die auf der Sitzung zur Schau getragene Ignoranz.