Barak Medina, Professor in Jerusalem, im Gespräch über die Auswirkung des Gaza-Kriegs auf israelische Universitäten

»Wir können es uns nicht leisten, isoliert zu sein«

Die Massaker des 7. Oktober und der darauffolgende Krieg gegen die Hamas sind Gegenstand heftiger Debatten in der internationalen akademischen Welt. Ein Gespräch mit Barak Medina von der Hebräischen Universität Jerusalem über offene Briefe und deren Rolle beim Verbergen sowohl einfacher Wahrheiten wie komplexer Sachverhalte.
Interview Von

Am 11. Oktober 2023 haben Sie gemeinsam mit dem Direktor und Rektor der Hebräischen Universität einen Antwortbrief mit dem Titel »You have failed us« (Ihr habt uns im Stich gelassen) an die Univer­sitätspräsidenten von Harvard und Stanford geschrieben. Darin kritisieren Sie deren Äquidistanz und betonen, dass eine moralisch relativierende Haltung angesichts der Ermordung von mehr als 1.200 Menschen durch die Hamas nicht an­gebracht ist. Warum haben Sie als Institution öffentlich Stellung ­bezogen?
Von Universitätsleitungen kann man nicht erwarten, dass sie zu jedem einzelnen Krieg oder Konflikt eine öffentliche Erklärung abgeben. Wir werden auch keine Universitäten kritisieren, wenn sie die Hamas nicht offiziell verurteilen. Aber in Harvard, ähnlich auch in Stanford, hat die Präsidentin zusammen mit den Dekanen wenige Tage nach dem Anschlag eine Stellungnahme verfasst als Reaktion auf eine Veröffentlichung von 30 Studierendengruppen, welche Israel allein für den Terrorangriff verantwortlich macht und eine Verurteilung der Hamas unterlässt. Wenn solche inakzeptablen Ansichten an der Universität verbreitet werden und die Präsidenten beschließen, darauf zu reagieren, dann erwarten wir, dass sie die Fakten einbeziehen. Das war, bevor die US-Universitäten für jüdische Studierende feindselige Orte wurden, aber es gab bereits Pro-Hamas-Aktivitäten auf dem Campus.

Haben Sie Reaktionen von den Universitäten erhalten?
Beide Universitäten antworteten mit dem Hinweis, dass sie ihre Erklärungen überarbeitet haben. Das liegt aber nicht nur an uns, auch Briefe von ei­genen Fakultätsmitgliedern und Ankündigungen von Spendern, ihr Geld zurückzuziehen, mögen eine wichtige Rolle gespielt haben. Die überarbeiteten Versionen waren immer noch zurückhaltend bei der Verurteilung der Hamas, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

Viele der derzeit kursierenden offenen Briefe gehen davon aus, dass es sich gegenwärtig nur um eine weitere Runde im israelisch-palästinensischen Konflikt handelt. Immer öfter wird Israel Apartheid, Kollektivbestrafung, sogar Genozid vorgeworfen. Die Hamas scheint diesen Vorwürfen nicht ausgesetzt zu sein. Dabei könnte man von Wissenschaftler:innen erwarten, dass sie die Unterschiede zwischen Massaker, Pogrom, Krieg und Genozid kennen. Wie erklären Sie sich diese Reaktionen von Kolleg:innen aus dem Ausland?
Die Verurteilung dessen, was die Hamas getan hat, ist vom moralischen Standpunkt aus gesehen ein einfacher Fall. Oder es hätte ein einfacher Fall sein sollen. Zwei andere Aspekte sind komplizierter. Es geht zum einen um die Legitimität dessen, was die IDF (Israel Defense Forces, die israelische Armee, Anm. d. Red.) als Reaktion auf den Hamas-Angriff in Gaza unternehmen. Und zum anderen geht es um den Kontext der Besatzung und Siedlungen. Eine illegitime und irreführende Kritik am gegenwärtigen Vorgehen der IDF besteht darin, es als Rache, als Vergeltung zu bezeichnen, die darauf abziele, so viele Palästinenser wie möglich zu töten.

Vielleicht kennen diese Leute die Fakten nicht?
Vermutlich wollen sie sich einer komplexen Diskussion entziehen. Und ­natürlich könnte es auch das Ergebnis von Antisemitismus, einer gewissen Voreingenommenheit sein. Die IDF verfolgen zwei Ziele. Sie müssen sicherstellen, dass die Hamas uns nicht wieder in dieser Form angreifen kann, und natürlich die Geiseln befreien. Diese Ziele rechtfertigen aus Sicht des Völkerrechts durchaus die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten, jedoch nicht in unbegrenzter Zahl. Die Frage ist also die nach der Verhältnismäßigkeit, und darauf hat niemand eine richtige Antwort. Es ist schwierig zu beurteilen, welche Art von Schaden in Kriegsfällen verhältnismäßig ist. Es ist eine offene Debatte, die sich aber auf eine Bewertung dessen stützen muss, was an Ort und Stelle geschieht.

»Ich kann diejenigen verstehen, die die Hamas mit den Nazis vergleichen. Aber ich halte es für eine Übertreibung, was die Größenordnung und das Ausmaß der Bedrohung angeht.«

Sie sprachen die israelische Besatzung in der Westbank an?
Um hier klar zu sein, die Besatzung kann nicht rechtfertigen, was die Hamas getan hat. Es geht eher um die Frage, ob es legitim ist, Israel dafür zu kritisieren, dass es in der Region keinen Frieden gibt. Auch das ist kompliziert. Zunächst muss man akzeptieren, dass die Hamas gegen den Frieden ist. Sie attackiert regelmäßig, sobald es eine gewisse Aussicht auf Frieden gibt – wie jetzt mit Saudi-Arabien. Der Gaza-Streifen war nicht besetzt. Es wird oft gesagt, dass der Gaza-Streifen belagert wird, aber nicht, warum es eine Blockade gibt: Seit dem israelischen Rückzug von 2005 greift Hamas Israel ständig mit Raketen an.

Und gibt es noch ein Problem, das mit den besetzten beziehungsweise ehemals besetzten Gebieten zusammenhängt?
Die israelischen Regierungen der vergangenen Jahre haben es nicht geschafft, langfristige Pläne für den Gaza-Streifen zu präsentieren, auch nicht für die Westbank. Eine der Lehren, die wir aus den Reaktionen der internationalen Gemeinschaft ziehen sollten, ist, dass wir es uns nicht leisten können, die durch die Besatzung verursachten Schwierigkeiten fortzusetzen; aber ich befürchte, dass diese einseitigen Reaktionen es den Israelis leichter machen, dies weiterhin zu ignorieren. Auch die Forderung nach einem palästinensischen Staat »From the river to the sea« trägt dazu bei. Die Kritik an der Besatzung zu ignorieren, fällt leichter, wenn sie so stark vereinfachend und einseitig ist oder zum Teil die Positionen der Hamas vertritt.

In einem offenen Brief vom 20. November im Magazin The New York Review of Books schreiben internationale Holocaust- und Antisemitismusforscher: »Die Behauptung, dass ›die Hamas die neuen Nazis sind‹, während sie die Palästinenser kollektiv für die Aktionen der Hamas verantwortlich macht, unterstellt denjenigen, die die Rechte der Palästinenser verteidigen, verhärtete, antisemitische Motive.« Auch sie fordern, dass solche Vergleiche nicht mehr verwendet werden. Die Initiatoren des Briefs beziehen sich auf die ­Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und deren Vergleiche der Hamas mit den Nationalsozialisten. Wie bewerten Sie diese Aussagen und die Fokussierung auf die gegenwärtige Regierung?
Ich denke, die Regierung ist ein leichtes Ziel für die Kritiker. Ich kann die­jenigen verstehen, die die Hamas hinsichtlich der Gräueltaten mit den Nazis vergleichen. Am 7. Oktober haben Menschen überlebt, weil sie sich unter den Leichen von Freunden verstecken konnten, was einige an die Massaker im ukrainischen Babyn Jar im Zweiten Weltkrieg erinnert. Ich verstehe das, aber halte es für eine Übertreibung, die Hamas mit den Nazis zu vergleichen, was die Größenordnung und das Ausmaß der Bedrohung angeht. Es ist kontraproduktiv und steht nicht einmal im Mittelpunkt der Kampagne der israelischen Regierung. Die vorherrschende Meinung im israelischen Diskurs ist eher, dass das Vorgehen der Hamas bei Tötungen dem des sogenannten Islamischen Staats gleicht.

Warum konzentrieren sich die Kritiker Israels in ihrem offenen Brief auf diese kleine Gruppe, die Analogien mit dem Nationalsozialismus herausstellt?
Vielleicht ist es nur eine Strategie, die eigenen Argumente aus dieser Per­spektive zu formulieren. Es ist jedenfalls nicht die eigentliche Frage, sondern: Was ist die richtige Antwort auf die Hamas? Vor 30 Jahren, als das Osloer ­Abkommen ausgearbeitet wurde, gab es eine Debatte darüber, ob wir ein Verbot bestimmter politischer Parteien in das Abkommen aufnehmen sollten, wie es in Deutschland möglich ist. ­Damit will ich nicht sagen, dass die Hamas eine neonazistische Partei ist wie die 1952 verbotene Sozialistische Reichspartei. Aber es sollte die Frage gestellt werden, ob die Hamas für künftige Wahlen qualifiziert oder disqualifiziert werden sollte. Wenn wir uns auf die politische Partizipation der Hamas beziehen, kann auch über den Vergleich mit den Nazis fundierter debattiert werden.

Haben die aggressiven antiisraelischen und antisemitischen Ausschreitungen an ausländischen Universitäten, die unzureichenden ­Reaktionen eines Teils der akademischen Welt und die einseitigen ­offenen Briefe Auswirkungen auf die künftige akademische Zusammenarbeit?
Die israelische Wissenschaft stützt sich aufgrund ihrer zahlenmäßig geringen Größe sehr stark auf die inter­nationale Wissenschaft. Wir veröffentlichen fast ausschließlich in interna­tionalen Fachzeitschriften, sind Teil eines internationalen akademischen Felds. Es besteht die Sorge, dass wir durch die Boykottbewegung BDS aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden könnten. Wir können es uns nicht leisten, eine isolierte Insel zu sein, es wäre das Ende der israelischen Wissenschaft. Unsere Antwort sollte höflich und ausführlich auf die Argumente eingehen und versuchen zu überzeugen. Es gibt Menschen, die nicht bereit sind zuzuhören, aber viele unserer Kritiker sind kluge und anständige Menschen, die ihre Meinung ändern oder zumindest differenzierter sein könnten. Es verlangt von uns auch Selbstkritik, aber wir kämpfen für die Wahrheit.

In den vergangenen zwölf Monaten haben Sie sich stark an der Diskussion über die sogenannte Justizreform beteiligt. Sie werden als wichtiger Kritiker des Vorhabens der Regierung wahrgenommen. Wie sehen Sie die innenpolitische Zukunft Israels und wie die Möglichkeiten für eine friedliche Zukunft für Israelis und Palästinenser?
Ich denke, dass die Justizreform vom Tisch ist. Die Regierung hat erkannt, dass wir uns die Spaltung der Gesellschaft nicht leisten können. Kurzfristig wird es vermutlich eine Verschiebung nach rechts geben und hinsichtlich der Beziehungen zu den Palästinensern auch Angst, ihnen zu vertrauen. Aber ich denke, langfristig könnten wir ­allmählich erkennen, dass wir einen fortdauernden Kriegszustand nicht ­bewältigen können. In der Offensive sind wir hervorragend, in der Vertei­digung aber schwach. Wir können unsere Grenzen nicht wirksam verteidigen. Die einzige Möglichkeit, hier zu leben, besteht darin, für den Frieden zu arbeiten. Und ich hoffe, dass auch die Palästinenser zu dieser Einsicht kommen werden, dass sie erkennen werden, dass es für sie schlimmer ist, auf der Seite der Mörder der Hamas zu stehen.
 

Barak Medina

Barak Medina ist Inhaber des Landecker-Ferencz-Lehrstuhls an der ­juristischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem

Bild:
Douglas Guthrie

Barak Medina hat einen Master in Wirtschaftswissenschaften der Tel Aviv University, einen Master of Law der Harvard Law School und schloss seine Promotion an der Hebräischen Universität ab. Medina war Gastprofessor an der Columbia University in New York und der University of California in Berkeley. Zu seinen Forschungsfeldern gehören Verfassungsrecht, wirtschaftliche Analyse des Rechts und Menschenrechte.